Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Begegnungen am Trudenstein
10.07.2023
Hätte mir jemand vor zehn Jahren prophezeit, dass ich einmal Lust auf Wanderungen, noch dazu im Harz, haben würde,
demjenigen hätte ich wahrscheinlich den Piep gezeigt; mindestens! Nun lebe ich in Sichtweite zum Brocken und es
passiert tatsächlich inzwischen ziemlich oft, dass ich mehr Lust auf Wanderung da oben spüre, als Verlangen nach
Konzertbesuchen. Es hat sich in den letzten Jahren so ergeben, zumal meine musikalischen Helden, so wie ich auch, in
die Jahre kamen oder gar nicht mehr am Leben sind. Es tut gut, alles hinter sich zu lassen, sich auf die windigen Höhen
zu quälen und dort den Blick über die Berge, in die Weite der Ebene, zu genießen sowie winzige Details zu entdecken,
die man in der künstlichen Geschwindigkeit des Alltags ständig übersieht. Außerdem ist Bewegung in der Natur die
schönste Möglichkeit, den Befindlichkeiten des Internets zu entsagen und sich Gutes zu tun, die natürliche Open
Air–Variante sozusagen.
Mir stecken noch die Auswirkungen der letzten Kilometer vor drei Tagen in den Knochen, als sich leise die nächste
Möglichkeit anbahnt. Eine Stunde später rollen die Räder durch Wernigerode in Richtung Drei Annen Hohne auf 550
Meter. Der Parkplatz ist noch leer, kaum Menschen zu sehen. Montags und gegen 9.00 Uhr sitzen die Touristen noch
beim Frühstück. Unser Ziel befindet sich auf 730 Meter oben im Nationalpark Harz. In diesem Gebiet waren wir vor ein
paar Jahren schon einmal wandern. Damals war Lily noch an unserer Seite und die Wälder noch so dicht, dass man
meist nur Stämme und deren Baumkronen sah. Die Sonne begeisterte mich mit faszinierendem Licht- und
Schattenspielen und statt eines Blicks über die Berge, sah man nur bis zur nächsten Biegung oder Wegweiser.
Inzwischen aber ist viel geschehen. Der Harz befindet im Wandel und die Welt verändert sich gravierend. Ich brauche
Abstand und den bekommt man im Nationalpark beim Wandern und Schwitzen ziemlich gründlich.
Der Weg führt über die Gleise der Schmalspurbahn, über die Straße und schon bald an der Rodel- und Spielwiese
entlang. Auf der wächst das Gras, auch die alte Eiche steht noch immer einsam mittendrin. Bald erreichen wir den
Abzweig zum Hohnehof und dahinter den steinigen Wanderweg zu dem Felsen, der uns mit einem weiteren Stempel
lockt: der Trudenstein. Die Sonne brennt erbarmungslos, denn vom einstigen Wald sind, wenn überhaupt, nur noch
nackte tote Stämme übrig geblieben. Auf großen Lichtungen werden die Baumstümpfe aber schon von jungen
Bäumchen sowie einer Unmenge rosarot blühender Fingerhüten überwuchert. Die Natur rettet sich überall aus eigener
Kraft. Zwar nicht binnen eines Menschenlebens, aber gänzlich ohne uns Menschen auf ganz natürliche Weise. Sie hat
alle Zeit dieses Planeten.
Die gleichen Orte im Vergleich: oben in heutigen Tagen, darunter im Juli 2016
Auf halber Höhe, am Rande einer riesigen Bruchfläche, steht einsam eine große kräftige Buche. Weit und breit hinter ihr
nur Baumreste und frisches junges Grün. Ich kann es kaum glauben: der Baum, unter dem ich mich im Juli 2016 mit
Lily ablichten ließ, hat alle Unbilden der Natur überstanden und steht hier stolz, mit seinen beiden wuchtigen Stämmen,
als würde er warten. Er ist es tatsächlich und auch die Inschriften in der Rinde sind noch lesbar. Nach einer kurzen
Pause des Erinnerns stampfen die Füße weiter über die steinige Huggelpiste, Hexenstieg genannt, den Berg hinauf.
Meine Gedanken aber rufen Bilderinnerungen von damals ab und vergleichen sie mit den Bildern von heute – kaum zu
glauben!
Wir erreichen das nächste Level und einen Wegweiser: Brocken, Leistenklippe, Trudenstein, Schierke und einige Ziele
mehr. Von dieser Kreuzung haben wir, das wuchtige Bergmassiv mit dem toten Holz im Rücken, einen gigantischen
Fernblick in die Ebene über Elbingerode hinaus. Ganz gleich, wie man es sieht, die dichten Wälder waren sicher
wunderschön, aber eben auch dicht. Jetzt fehlen sie, dafür entschädigt der Reiz eines Fernblicks. Beides zur gleichen
Zeit ist nicht zu haben. Also genießt, was ihr seht, genießt den Augenblick, denn in einigen Jahren wird davon nicht viel
bleiben. Es gibt so viel zu entdecken und von der Natur geschaffene Skulpturen und Arrangements zu bestaunen. Ich
jedenfalls kann nicht genug davon bekommen. An der Kuppe des Weges zeichnen sich schon die Konturen eines Felsens
ab. Wir haben es geschafft – die Granitklippe namens Trudenstein, zwischen Bäume geduckt, ist erreicht und damit die
Nummer 17 für das Wanderheft. Ein schöner Moment.
Der Trudenstein ragt am Südhang eines dem Brocken vor gelagerten Bergrücken auf. Eine rustikale Sitzgruppe lädt zur
Rast, eine Gruppe Steinmännchen zum Bestaunen und eine Leiter zum Besteigen der Granitsteingruppe ein. Die sieht
aus, als hätten Harzer Riesen ihre Kissen aufeinander gestapelt, Wollsackverwitterung genannt. Irgendwann könnte das
Riesengebilde diesen Hang hinab gleiten und dann verschwunden sein. Es ist wie mit dem Wald; es wird Zeit brauchen.
Aber noch steht die Trude, also steige ich hinauf zum höchsten Punkt und erlebe den Lohn des Aufstiegs. Unter mir der
Wald, dazwischen die Gleise der Brockenbahn, die teilweise zu sehen sind, und jede Menge Fernsicht. Man könnte
glattweg ins Schwärmen geraten.
Wir treffen ein Paar aus dem Vogtland und verwickeln uns gegenseitig in ein Gespräch. Wie schön es hier war und ist,
wie sich die Natur verändert und dass gerade Wolken aufziehen. Die stauen sich am Südharz, schaffen es aber meist
nicht über die Berge und auf die nördliche Seite. Dennoch ziehen in diesen Minuten Nebelschaden auf. Eigentlich hatte
ich vor, vom Trudenstein noch den Hohnekopf und von da die Leistenklippen (auf rund 900 Metern) zu erwandern. Die
Nebelschwaden durchkreuzen den Plan und die erhoffte Fernsicht. Wir entschließen uns, den Rückweg anzutreten und
die Leistenklippen sowie den dazugehörigen Stempel zu einem späteren Zeitpunkt zu erobern. Mir geht es um
Bewegung in der Natur und die kann ich gern ein weiteres Mal an diesem Bergrücken erleben.
Auf dem Rückweg nutzen wir eine Abkürzung durch eine der überwucherten Bruchlichtungen. Nur ein schmaler
Trampelpfad führt vorbei an Baumstümpfen- und Resten, vorbei am Fingerhut, Disteln sowie anderem Gestrüpp. Wir
erleben zehn Minuten Abenteuer in Bodenwildnis und stolpern über Steine und Wurzeln, ehe wir wieder unseren
Wanderweg erreichen. Während wir in der Mittagsstunde gemächlich abwärts schlendern, kommen uns keuchend aber
lächelnd weitere Wanderer entgegen. Sogar ein Paar aus Dänemark fragt nach dem richtigen Weg. Wir quasseln über
den Harz und meine Segeltörns nach Dänemark, ehe jeder seinem Ziel entgegen geht. Wir abwärts, sie nach oben. So
erreichen wir wieder die Spielwiese, aber diesmal sehen wir uns diesen Platz genauer an, auf dem im Winter unsere Lily
stets herumtobte, denn Lily liebte Schnee. Neben naturkundlichen Spielen, bei denen Kinder viel über die Natur lernen
können, steht die 600 Jahre alte Eiche, geschützt von einer Absperrung, im Gras mitten auf der Wiese. Wenn die reden
könnte …!
Wieder auf dem Parkplatz angelangt, hat inzwischen Kukki seinen Erbsenstand aufgebaut. Im Bahnhof von Drei Annen
Hohne warten drei Züge, die unter Dampf stehen, auf ihr Abfahrtsignal. Mich gelüstet es nach einer Schüssel
Erbsensuppe mit Bockwurst. Die schmeckt im Winter besonders lecker, ist aber heute auch nicht zu verachten. Während
wir genüsslich löffeln, fährt der Zug nach Wernigerode vorbei und ich drücke auf den Auslöser. Gesättigt suchen wir
unser Gefährt auf, ohne unser Tagesticket in voller Länge genutzt zu haben. Ich stecke es einem zu, der gerade eins
lösen möchte. Wieder entsteht ein lockeres Gespräch, diesmal mit einem Rheinländer, der seinen Dialekt genau so
wenig verbergen kann, wie ich den meinen. Es ist ein fröhliches Abschiednehmen, ehe wir den Berg hinab zur Stadt auf
die Piste rollen. Die Berge lockten, wir kamen und schon bald werden wir wieder auf sie steigen, zum Wandern,
Abschalten und Nachdenken.