Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Zum Peterstein – querwaldein
08.05.2021
Manchmal halte ich dieses Politikgesäusel, dieses Pandemiefaseln und das ganze Quergefurze einfach nicht mehr aus.
So viel Ignoranz, Selbstherrlichkeit sowie Blödheit auf einem Haufen kann manchmal selbst der gelernte alte DDR-
Bürger nicht mehr ertragen. Dann muss er weg, weit weg. Am besten in die Natur, auch wenn die schon lange nicht
mehr das ist, was sie einstmals war. Wir Menschen haben überall unsere Spuren der „Bewirtschaftung“ und
Gewinnmaximierung hinterlassen. Davon werde ich mich, völlig ungewollt und nicht geplant, wieder überzeugen
können.
Diesmal stelle ich den dunkelgrauen Räderschimmel am Straßenrand auf der Höhe vor Elbingerode ab. Auf der einen
Straßenseite Reste vom Wald und auf der anderen eine ausgedehnte Wiese, die sich bis zum anderen Waldrand
gegenüber und hinab bis nach Elbingerode zieht. Wir wollen sie überqueren, in den Waldrand eintauchen und dann
sehen, was uns erwartet. Mit meinem „Beutel auf dem Rücken“ und dem Stock in der Hand ist der Waldrand schnell
erreicht und, nach einigem Suchen, der Waldweg gefunden, der zum Ziel führen soll. Plötzlich ist mir, als würde ich in
eine andere Welt hinein laufen.
Die Bäume sind kahl, viele liegen entwurzelt am Boden und zwischen vertrockneten Baumstümpfen ist bereits frisches
Grün zu sehen. Es scheint, als würde sich die Natur aus dem kahlen Grau wieder neu erfinden wollen. Wie aus dem
Nichts steht am Rande des Pfades ein eigenartiges Gebäude. Auf dem Dach hatten sich Bäume verankert, wuchsen in
die Höhe und strecken nun ihre kahlen langen Äste in den Himmel. Eine skurrile Szenerie, die wir erst nach genaueren
Betrachten als Teil einer historischen Bergwerksanlage erkennen. Daneben liegen verrostete Gerüstteile aus Metall in
einer ringsum völlig zerrissenen Waldlichtung. Hier atmet die Natur verlassene Geschichte einer Bergbaubrache, dem
Wald und dem Wetter überlassend. Auf mich wirkt das alles unnahbar und traurig. Ich will hier weg!
Kurz danach stehen wir auf einer Schotterpiste, auf deren anderen Seite, zumindest laut Karte, mein Wanderweg
weiterführen müsste. Nichts dergleichen! Vor uns fällt der Wald ab und nur wenig später wissen wir, dass dieses Areal
vom Bergbau gesperrt ist – Gefahr! Mit der Karte stimmt etwas nicht, so glaube ich zumindest. Also folgen wir der Piste
in die vermutete Richtung und entdecken bald einen schmalen Trampelpfad, der rechts, am Sperrgebiet entlang, noch
tiefer in den dichten Wald führt und steil abwärts. Also folgen wir mutig dem Hinweis und laufen von nun an
querwaldein, wohin uns der Pfad auch bringen mag. Ich komme mir vor wie in meinen Kindertagen, als ich mich wie ein
Entdecker fühlte, der wild entschlossen unbekanntes Terrain erkundet. Lieber querwaldein als querdummdenken!
Nach Durchquerung einer tiefen Waldmulde finde ich mich auf der anderen Seite und im Nirgendwo wieder. Ein paar
kleine einsame Wochenendehäuschen, auf deren Vorderseite wieder ein Schotterweg entlang führt. Das Idyll liegt
abseits mitten im Wald und wenn die riesige abgeholzte Fläche mit dem alten Haus mittendrin nicht wäre, könnte dies
ein Ableger vom Paradies sein. Doch auch hier haben Sturm, Trockenheit sowie Borkenkäfer gewütet und nichts als
Zerstörung hinterlassen. Vor ein paar Jahren muss dies noch völlig intakter Wald gewesen sein und das alte Gehöft das
im Lied besungene „Kleines Haus am Wald“. Doch es sollte nur ein paar Minuten weiter noch viel schlimmer kommen!
Bald laufe ich auf eine Kreuzung zu und die ist wirklich an allen Seiten des Schotterwegs mit riesigen Stapeln abgelegter
Baumstämme markiert. Einer größer, höher und länger als der nächste. Dieses Bild hat auch nichts mehr mit
Forstwirtschaft zu tun, sondern symbolisiert den aktuellen Zustand von Wald und Flur im Harz. Zu begreifen, dass dies
nicht allein einer Naturkatastrophe geschuldet ist, sondern in erster Linie dem Handeln des Menschen zugeschrieben
werden muss, fällt schwer. Nach Überquerung dieser Kreuzung laufen wir im Petersholz, oder dem, was davon geblieben
ist, durch eine gigantische freie Fläche, die nur noch an den Massen der Baumstümpfe als ehemaliger gesunder Wald,
am Boden liegend und als Festmeter gelagert, zu erahnen ist. Der Blick schweift völlig ungehindert und weit über die
Höhen, auf denen sich jetzt die Windböen frei entfalten können. So schön es auch ist, von hier aus das Brockenplateau
mit seinen letzten Schneeresten bewundern zu können, so erschreckend ist aber auch, nicht mehr dichten und
gesunden Wald vorzufinden. Es ist ein Bild totaler Zerstörung mitten in der Natur.
Die Sonne brennt auf mein kahles Haupt, der Wind zersaust die verbliebenen Strähnen und die Füße müssen durch
diese trockene Baumstumpffläche wandern. Als sich der Weg am Hang wieder abwärts neigt, schimmert silbern eine
Wasserfläche durch die verbliebenen Bäume im Tal – der Stausee vom Zillerbach. Ich erkenne die Staumauer und dann
endlich auch, wieder auf einer kleinen Anhöhe, eine Bank am Peterstein. Dort warten die Stempelstelle mit der Nummer
36 und die ersehnte Rast auf den müden Wanderer und ergrauten Rock-Rentner.
Nach neunzig langen Minuten, also einer Spielfilmlänge, liegt das Ziel vor uns. Noch die letzte kleine Anhöhe, dann ist
es geschafft. Ich sitze auf einer rustikalen Holzbank, vor mir eine Tischplatte, über die der Blick ins Tal zur
schimmernden Wasserfläche reicht. Der Wind weht die Frische herüber. Eine Lehne im Rücken und die Beine
ausgestreckt unter dem Tisch, genieße ich diesen Anblick. Ziemlich kaputt und mit brennenden Fußsohlen, kaue ich
einen Apfel, während ich die wenigen Wanderer und Biker rund um die Staumauer beobachte. Obwohl es ein
Wochenende ist, sind nur wenige Menschen in dieser etwas abgelegenen Harzgegend unterwegs. So kann man
entspannen, doch schon bald wird mir bewusst, dass unser Rückweg, also die gleiche Strecke nur anders herum, noch
vor mir liegt. Der Gedanke, dass irgendwo in der Nähe das graue „Gepferd“ stehen könnte, ist schon sehr verlockend.
Schnell noch ein Erinnerungsfoto vom „Rock-Rentner mit Wanderstab“, einige aufmunternde Worte im Selbstgespräch
und schon landet mein Beutel wieder auf dem Rücken. Den Wanderstab nehme ich in die Hand und auf geht’s!
Eigentlich wollten wir heute unsere Lily mit auf die Reise nehmen, doch ich bin froh, das heute nicht gemacht, ja sogar
vergessen zu haben. Unsere Lily soll ihre letzte Ruhestätte im Harz finden, aber an einem Ort, der ihr auch Freude
bereitet hätte und noch die Stille und Erhabenheit von intakter Natur ausstrahlt. Dieses Gefühl vermittelt der Kahlschlag
im Petersholz, durch das wir jetzt wieder zurück und bergan keuchen, überhaupt nicht. Ich empfinde es irgendwie
frustrierend, durch diese Einöde auf den Bergen zu staken. Nur gut, dass dies hier noch nicht zum Nationalpark Harz
gehört und deshalb aufgeforstet werden kann. Sonst sähe es wahrscheinlich noch viel schlimmer und chaotischer aus.
Mit solchen Gedanken im Kopf passiere ich die Stelle mit den vielen Holzstapeln, wir wandern vorbei am einsamen
„Haus am Wald“ und gehen auf dem schmalen Pfad durch die Senke bis zur Schotterpiste zum alten Schacht. Erst hier
und jetzt streikt meine Hüfte und mit ihr das Knochengestell darunter. Dennoch motiviere ich mich zum Weitergehen bis
zur großen (Alm)Wiese, wo eine Bank, die wir auf dem Hinweg sahen, auf uns wartet.
Der Blick über die saftige Wiese korrigiert das in den vergangenen drei Stunden gesehene Bild wieder ein wenig, stimmt
mich hoffnungsvoll. Mein Drang nach Entdeckungen und neuen Erlebnissen im Harz ist ungebrochen, auch wenn der
Tag danach stets schmerzhaft, weil mit Muskelkater, verläuft. Es ist egal, denn ich genieße jeden weiteren Tag in
meinem Leben und für unsere Lily wird sich schon bald ein geeigneter Platz finden. Sie ist ohnehin immer bei uns, ruht
neben unseren Herzen und wird uns auf Schritt und Tritt weiter begleiten. Beim nächsten Ritt in die Berge wird sie
wieder an unserer Seite sein und wir in den Gedanken bei ihr. Dennoch ist eine Wanderung ohne Lily wie ein
Familienausflug ohne Kinder – irgendwie unwirklich.