Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Am Kamelfelsen von Westerhausen
31.12.2021
Heute ist der letzte Tag im Oktober: Halloween und die Sonne malt die Blätter in allen nur denkbaren Farben bunt.
Vielleicht wird dies der letzte schöne Tag im Herbst. Gestern hatte ich auch schon so ein Gefühl, das uns letztlich hinaus
in die Felder lockte. Das Laufen auf den Feldwegen hat mich beruhigt, es hat mir gut getan und mich abgelenkt. Das
brauche ich heute noch einmal, denn morgen habe ich einen Termin, einen inzwischen unvermeidlichen.
Man wird mich untersuchen, intensiv aufklären und mir einige Fragen stellen. Auch ich werde fragen, damit ich gut
vorbereitet bin. Am Tag darauf, am Dienstag, wird man mir ein Bett in einem Zimmer zuweisen, ein Bett mit viel
„Komfort“. Die Unterkunft werde ich voraussichtlich eine Woche lang nicht verlassen können. Mit Gehhilfen in beiden
Händen ist das auch schlecht möglich, denn ich werde das Laufen wieder neu erlernen müssen. Danach sollte alles
anders sein, sagte man mir, zumal sich ein Aufenthalt in einer anderen Unterkunft anschließen wird. Im November bin
ich also voll ausgebucht und die ersten Tage im Dezember sicher auch. Deshalb zieht es mich noch einmal in die Natur,
hinaus in den Herbst, zu einer kleinen Felsformation nahe Westerhausen. Die Einheimischen nennen den Fels Kehnstein.
Namentlich und erdgeschichtlich ist er wohl dem Regenstein bei Blankenburg vergleichbar. Ich freue mich auf eine
kleine Wanderung und viel herbstlich farbenfrohe Natur.
Wir waren schon einmal hier; mit Lily. Damals war sie schon alt, aber noch nicht müde. Auf der Suche nach den
Hinkelsteinen, haben wir auch dem Menhir bei Westerhausen einen Besuch abgestattet. Auf der Rückfahrt fiel uns dann
diese eigenartige Felsformation auf, die der Teufelsmauer sehr ähnelt. Da es auch einen Sonderstempel abzuholen gibt,
stand der Kamelfelsen bald auf der Besuchsliste. Es hat über ein Jahr gedauert, doch heute wollen wir es wissen!
Zum 130 Millionen Jahre alten Buntsandstein führt ein Feldweg, der bald zu einem Trampelpfad wird. Der
Sandsteinbrocken ragt, einer Landmarke vergleichbar, aus dem Umland heraus. Wir folgen dem Pfad aufwärts und
stehen alsbald am roten Stempelkasten, noch ehe das eigentliche Ziel erreicht ist. Der Sonderstempel „Im Zeichen der
Hexen“ landet im Heftchen und ich genieße den ersten Blick weit in das Harzvorland. Schön, dass wir uns überwunden
und die vier Wände verlassen haben. Die Sonne zeigt sich noch einmal von ihrer besten Seite. Ich steige langsam weiter
nach oben, dem markanten Kamelfelsen entgegen. Der streckt sich wie ein Höcker in den blauen Himmel und leuchtet,
so wie das Laub ringsum auch, in goldgelben kräftigen Farbtönen. Das sieht aus wie eine kunstvolle Performance, wie
ein erstarrter Augenblick Zeit, zum Bewundern und Genießen geschaffen. So verschwenderisch ist der Herbst mit seiner
Farbenpracht und nur die Natur erschafft solche zauberhaften Kunstwerke.
Wie der aufgestellte Kamm einer urzeitlichen Riesenechse zieht sich die Formation aus Gestein auf der Höhe des Hügels
entlang. Ein steil aufragender Steinzacken ragt nach dem nächsten auf. Dazwischen hat man freie Sicht in die
Landschaft auf der jeweils anderen Seite. Links und rechts neben dem Fels lädt ein Trampelpfad ein, den Rücken des
Hügels zu erkunden. Wir entscheiden uns für den Weg auf der dem Harz zugewandten Seite, denn zur Linken schlängelt
sich die einstige Bundesstraße 6 durch die Landschaft. Nur die hohen Bäume verhindern, dass der Fahrzeuglärm auch
hier ankommt und die Ruhe der Natur stört. Während ich die Formation abschreite, zieht sich neben mir eine bunte
Hecke aus Bäumen und Gestrüpp entlang und markiert den Hang, der steil abfällt. Weiter vorn schaut schon der
nächsten Felsbrocken aus dem Laub der Bäume hervor. Ein fantastisches Bild – ich drücke auf den Auslöser.
Zum Ende des Felsrückens entdecke ich eine Bank am Hang. Hier lichten sich Bäume sowie Sträucher und ein herrlicher
Blick bis hinüber zu den Bergen ist frei. Direkt zu meinen Füßen aber leuchten gelb, grün und rot die Blätter einer
kleinen Weinplantage herauf. Wein im Harz und bei Westerhausen, wer hätte das geahnt! Ein Mann kommt uns
entgegen, sein junger Schäferhund läuft ihm voraus, genau zu uns an die Bank. Sofort sind meine Gedanken wieder bei
unserer Lily. Wie schön es doch wäre, sie bei solchen Unternehmungen noch bei uns zu haben! Sie fehlt einfach und
nichts und niemand wird diese Lücke jemals wieder schließen. Leider.
Es ist schön im Harz und ich habe gelernt, solche Momente bewusst zu genießen. Ich sauge die Bilder auf und lasse
bereits erlebte im Kopfkino vorüber ziehen. Morgen werde ich sie mit auf meine Reise in die Zukunft nehmen und mich
erinnern, wenn ich nach überstandenem Eingriff Ansporn zur Genesung brauche. Noch habe ich keine Vorstellung, was
genau mich erwartet, aber ich spüre den Willen, auch mein Leben danach - zwischen Familie, Rock’n’Roll und Natur -
gewusst zu gestalten und zu genießen.
Beim Abstieg vom Hügel ist mir bewusst, dass gerade mein letzter Ausflug in diesem Jahr endet, der letzte mit eigener
Hüfte. In zwei Tagen wird dort, wo es im Getriebe jetzt noch knirscht und schmerzt, ein Ersatzteil dessen Funktion
übernehmen. Dann beginnt ein neuer, mir noch fremder, aber Hoffnung spendender, Lebensabschnitt. Es bleibt
spannend und ich freue mich (ein wenig ängstlich) darauf. Ich gehöre noch lange nicht zum „alten Eisen“, zumal in mir
Edelmetall verarbeitet sein wird: „I’m An Iron Man!“.