Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Mohnfeld im Spätling
16.06.2022
Im Frühling wird die Natur bunt, im Spätling wird sie noch bunter. Beim Pendeln zwischen Halberstadt und Wernigerode
ist mir das mehrmals aufgefallen. Kurz vor Silstedt, also kurz vor Wernigerode, fand der Radradler einen von
Mohnblumen beiderseits gesäumten Radweg vor. Eine Augenweite, hier mit dem Fahrrad vorbei zu fahren. Zwei Tage
später, als ich diesmal meine Kamera mitführte, hatte jemand die dicken roten Mohnblumenstreifen beiderseits des
Radweges abrasiert. Mit finsterer Miene fuhr ich über die Autobahnbrücke nach Wernigerode hinein. Beim Halt an der
Ampel blitzten rote Flecken, weit oben am Waldrand, zu mir herüber. Eine Sekunde später schaltete die Ampel auf Grün
und Rot entzog sich wieder meinen neugierigen Augen. Das wollte ich ändern.
Wernigerode verlassen, ohne das leuchtende Rot aus der Nähe gesehen zu haben, das will ich heute nicht riskieren. Also
biege ich vor dem Überqueren der Autobahn zum Pendlerparkplatz ab und von da in einen Feldweg ein. Darauf rolle ich
locker einen Kilometer neben der Piste dahin, um alsbald scharf in einen steinigen Hohlweg abzubiegen. Zwischen
Hecken, Büschen und Sträuchern stolpern die Räder einen Hang hinauf und finden schließlich, irgendwo ganz oben, auf
einer Wiese festen Halt. Abstellen, aussteigen, orientieren.
Vor mir breitet sich eine Wiese aus, Also eine richtige Wiese! Die Halme kniehoch, mit vielen Blumen dazwischen, so
neigt sich diese natürliche Grünfläche sanft den Hang hinab. Wie in Kindertagen sehe ich mich da hindurch gehen,
während die Halme meine Knie streifen oder sich an meinen Sandalen verheddern. Es duftet vielfältig, Vögel zwitschern
und von der fernen Autobahn weit unten dringt kein Geräusch hierher. Hinter einem Feld- und Wiesenrain aus dichten
Büschen, kleinen Bäumen und noch kleineren Sträuchern leuchtet es rot zu mir. Noch ein paar Schritte hindurch und
wenige Meter vor mir springt ein Reh auf, sucht mit hastigen Sprüngen das Weite. Hey, du kleines Reh, hast mich ganz
schön erschreckt und ich dich sicher auch!
Vor liegt ein endlos scheinendes Feld, wie ein Teppich ausgerollt, und darin, neben Tupfern in weiß und gelb und blau,
eine Unmenge roter Mohn. Die ganze Pracht mir zu Füßen bis über den Rand des Hügels hinaus und noch weiter. Was
von der Straße wie ein roter Flickenteppich anmutet, erweist sich aus der Nähe als ein Mohnfeld mit lauter farbig
blühenden Feldblumen. Da sollte ich nicht hinein treten, denke ich, aber es zieht mich magisch schrittweise doch
dorthin. Es lockt mich förmlich, kann nicht widerstehen. In diesen Augenblicken fühle ich mich frei vom Alter, entrückt
von der Welt und ohne Gedanken an das Geschehen hinter dem Horizont. Ich bin frei, für den Moment einer kleinen
Illusion wirklich frei.
Keine Ahnung, wie lange ich so im Überfluss von Mohnblüten und anderen Wiesenblumen gestanden haben mag. In
solchen Momenten spielt Zeit keine Rolle mehr, weil all das, was einen treiben könnte, an mich nicht heran kommt. Es ist
zu weit weg, nicht mehr sichtbar und nicht zu spüren. Ich sehe nur die Weite einer herrlichen Wiese, rieche Düfte, die
längst vergessen waren und spüre den lauen Wind, der darüber streicht. Doch mit jedem Schritt heraus aus diesem
Paradies, den knorrigen Bäumen oben näher, rückt mir auch die Realität, in Form meiner Blechkarosse, wieder auf die
Pelle. Einsteigen, das letzte Stück Weg hinauf bis zur Kuppe und schon erblicke ich sie wieder, diese Stadt, mit dem
Brocken dahinter. Die Welt hat mich wieder, das rote Mohnfeld aber schenkte mir ein wenig Entschleunigung. Als Dank
behalte ich diesen Fleck in meinem Herzen. Im Harz gibt es Ecken zu entdecken, die gibt es nur im Spätling, wenn der
Raps nicht mehr gelb leuchtet, aber der Mohn in Tiefrot lockt. Macht eure Augen auf, lasst euch locken und bremst das
Hasten ein wenig ab!!