Brockenaufstieg mit Geh-Hilfe
09.01.2016
Dieser Tag war eigentlich schon länger verplant. Der Plan sah vor, nach Dresden zu fahren, Rio Reiser zu ehren, Freunde zu
treffen und in der Nähe kuschelig einzuschlafen, um am nächsten Morgen gut gelaunt wieder in Richtung Harz zu fahren.
Aber mit dem neuen Jahr kamen die Kälte, Schnee und der Gedanke, Vernunft walten zu lassen. Es passte einfach nichts
mit meinem Gemütszustand zusammen. Am Ende war die Einsicht, den Stecker zu ziehen, um durchzuatmen. Am Tag
darauf war der Himmel blau und die Sonne wieder etwas wärmer, als zuvor. Die Erkenntnis, dass man nichts erzwingen
kann und trübe Aussichten, verhinderte zwei Tage vorher schon die Fahrt zum Leipziger Südfriedhof. Kein schönes Gefühl.
Heute ist Samstag, zwei Tage später. Der Himmel ist wieder strahlend blau und die Sonne scheint. Ein Wintertag, wie aus
dem Märchenbilderbuch. Meine Gedanken kreiseln um den verhinderten Plan, sie suchen nach einer Alternative. Mir scheint,
ein kleiner Ausflug hinauf nach Drei Annen Hohne, um dort ein wenig Winterlandschaft zu inhalieren, könnte eine gute Idee
sein. Hier unten in der Stadt ist die weiße Pracht schon wieder verschwunden, in der Sonne getaut. Darunter kommen
Schmutz und das Grau des Alltags zum Vorschein. Also wird das Mittagessen vorgezogen, der Rucksack beladen und die
Schüttel bestiegen. Nachmittags auf halber Brockenhöhe zu wandern, ist jetzt der Plan. Wir verlassen die Stadt und sehen
direkt auf die Berge. Unter dem azurblauen Himmel reckt der Brocken sich in die Höhe. Bedeckt mit einer weißen Kappe, ist
er wahrscheinlich weit im Land zu sehen. Der Blick von da oben muss jetzt gigantisch sein, denke ich mir, und im gleichen
Augenblick zündet mein Gehirn den Booster.
Wenn das Wetter schon mal so einzigartig schön ist, dann sollten wir mit der Harzer Schmalspurbahn, von Drei Annen
Hohne aus, unseren Brockentest wiederholen, um ihn diesmal zu vollenden. Mit einer kleinen Lokomotive als Geh-Hilfe!
Wer weiß denn schon, wann die nächste günstige Gelegenheit sein wird, bei sonnigem Winterwetter und dieser klaren Luft
oben auf dem Gipfel des Brocken zu stehen. Die Aussicht auf Fernsicht erweist sich als Weitsicht. Nach einer halben Stunde
haben wir Drei Annen Hohne erreicht und stellen die Schüttel an einem Haufen Schnee ab. Mit zwei Tickets zu jeweils 37,00
Euronen in der Tasche, steigen wir in einen der kleinen roten Waggons der Harzer Schmalspurbahn. Lily darf als
„Handgepäck“ mitreisen. Brocken, wir kommen!
Die Fahrt zum Bahnhof Schierke dauert zwölf Minuten, sagt die Stimme aus dem Lautsprecher. Mit viel Dampf und lautem
Rattern rumpeln die Wagen über die Gleise hinein in den verschneiten Hochwald. In diesen Momenten ist mir wie Kind sein,
so wie damals, als alle Eisenbahnwagen auch so rumpelten und ratterten, als noch weiße Wolken aus Dampf am Fenster
vorüber geflogen sind. Draußen auf der Plattform zwischen den Waggons riecht die frische Harzluft nach Ruß, Freiheit und
Abenteuer. In das Pfeifen der Lokomotive mischt sich ein lauter Schrei, den der Fahrtwind verwischt. Jetzt ist mir wohler.
Im Bahnhof Schierke, dort wo Ursel zu Hause ist, wartet schon der Gegenzug. Von hier aus muss die kleine Lokomotive ihre
Waggons über vierhundert Höhenmeter bis zum Brockengipfel schleppen. Die meiste Zeit verbringe ich stehend, draußen
auf der Plattform. Das herrliche Wetter verleitet manchen Fahrgast, es mir gleich zu tun, denn während der Fahrt kann man
den Harz aus vielen interessanten Perspektiven bestaunen. Je höher wir kommen, desto mehr Schnee verziert die
Landschaft, tun sich weite Blicke auf oder stehen Wanderer an den Gleisen, um zu fotografieren oder, wie Kinder, einfach
zu winken. Mein Körper pumpt sich mit jedem Höhenmeter mehr mit Adrenalin voll, so wie damals, als diese Tour meine
Erste war. Genau so fühlt sich Glück an.
Der Zug fährt jetzt durch eine tief verschneite Winterlandschaft. Dahinter kann man für Momente die Berge sehen oder ins
Tal blicken. Dann taucht hinter den schneebedeckten Baumwipfeln der Mast des Brocken auf, den man auch unten aus der
Ebene erkennen kann. Noch eine letzte Kurve, ein Pfiff der Lokomotive und wir fahren in den höchstgelegenen Bahnhof
Deutschlands ein. Endstation, wir haben das Brockenplateau erreicht.
Zuerst spüre ich den eisigen Wind, der noch schärfer weht, wenn das Bahnhofgebäude keinen Schutz mehr bietet und man
die letzten Meter bis Plateau laufen muss. Da oben stehen unübersehbar all die markanten Bauten, die man bei klarer Sicht
auch von unten sehen kann. Doch jetzt sind sie greifbar nah und der Wind hat überall gefrorenen Schnee an Wände, Türen,
Geräte und Antennen gepresst. Wir werden heute von einer skurril schönen Umgebung aus Eis, Schnee und Sonne
empfangen, die in der Kälte entstanden und vom Wind verformt ist. Die Augen werden von dieser Pracht verwöhnt und
eigentlich weiß ich nicht so recht, wohin ich zuerst blicken sollte. Von den aussteigenden Menschen und den ankommenden
Wanderern lassen wir uns mit auf das Plateau treiben, um von hier aus den überwältigenden Weitblick, der an diesem
wundervollen Tag herrscht, zu bestaunen. Es ist wohl das Privileg des Einheimischen, zu denen wir jetzt gehören, kurzfristig
entscheiden zu dürfen, ob sich eine Fahrt in den Harz, also auch zum Brocken, lohnt oder man das Vorhaben lieber
verschieben sollte. So ein Tag ist heute, denn vom Entschluss bis zur Ankunft auf dem Harzgipfel sind gerade einmal zwei
Stunden vergangen.
Der Wind weht heftig und fühlt sich bei nur zwei Grad minus dennoch wie sibirische Kälte an. Unsere kleine Lily sieht aus,
als stünde sie im Windkanal. Ich habe die Handschuhe vergessen und spüre, was die kleine Hundelady eventuell gerade
ertragen muss. Wer die Schönheiten der winterlichen Natur auf dem Brocken genießen möchte, muss das auch mögen. Lily
steckt das weg und lässt sich, obwohl sie das Fotografieren überhaupt nicht mag, vor dem großen Stein mit der Höhemarke
1.142 ablichten, so wie das die meisten machen. Dann bekommt Lily ein Paar Hundesocken, also vier kleine Söckchen für
die Füße, angezogen und so ausgestattet, begeben wir uns auf den Rundweg um das Areal.
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Heute gibt es vom Brocken beinahe einen Panorama-Rundblick zu bestaunen. Nur ein Stück Südwest ist von angestauten
Wolkenformationen, die wie ein Teppich vor uns liegen, verdeckt. Ansonsten ist der Blick frei bis zum Horizont. Im
Nordosten kann man Braunschweig erkennen, Richtung Norden sieht man Magdeburg und weiter rechts Bernburg. Davor
die Türme von Halberstadt und die vielen kleinen Ortschaften, die sich in das Harzvorland schmiegen. Nach Osten strecken
sich die Hügel und Täler des Gebirges und wer sich gut auskennt im Harz, kann sicher ganz viele Details zuordnen, die mir
noch verborgen sind. Scheinbar direkt zu unseren Füßen liegt Wernigerode, mit dem Schloss, und weiter links Ilsenburg und
Bad Harzburg. In Richtung Westen kann man, quasi zu Füßen des Brocken, auf die beiden Kuppeln der Lerchenköpfe (800
m) nahe Torfhaus sehen, auf denen je ein Sendemast steht. Mir zu Füßen liegt das Vorland des Harzes, wie aus der
Spielzeugkiste aufgebaut und auf einem Teppich ausgebreitet. Es ist so schön hier, so viel urwüchsige Winternatur, dass
man im Grunde nicht begreifen möchte, das dies alles erst seit einem Vierteljahrhundert für jedermann zugänglich ist. Wenn
man weiß, das es überall und weltweit solche einzigartigen Plätze gibt, will der normale Mensch, wie ich auch einer bin,
nicht verstehen, warum die Mächtigen und Mächte diese Welt mit aller Gewalt, des Gewinnes wegen, besitzen oder auch
zerstören wollen. Gier und Dummheit sind wohl die schlimmsten Geißeln auf Erden, mahnt uns auch der Brocken.
Der Rundweg führt ein Stück unterhalb des bebauten Areals, mit Sendemast, Gaststätte, Museum und Aussichtsturm, rund
um das Plateau, so dass man die Landschaft unterhalb des Gipfels und die vielen Details im Harzvorland gut entdecken und
betrachten kann. Während der Blick zwischen Landschaft und Sendturm über mir pendelt, laufe ich an bizarr verformten
Bäumen vorbei, die, jeder für sich oder als Gesamtheit in kleinen Gruppen, wie kleine Kunstwerke aussehen. Gleißendes
Sonnenlicht verleiht den Formen, je nach Blickwinkel, eine zusätzliche Dimension, die man sicher nur in solchen Höhen vor
die Linse bekommt. Wir brauchen eine ganze Stunde, um den Rundweg zu gehen und das Gefühl zu haben, vor allem die
Eindrücke von der Urwüchsigkeit der Natur mitnehmen zu können. Ich vergesse sogar, dass ich eigentlich an den Fingern
frieren müsste.
Nach einer Stunde macht sich Lily energisch bemerkbar. Die Kleine ist sicher durchgefroren und auch müde vom Rumtollen
im schweren tiefen Schnee. Lily wird, jetzt gut verpackt, in den vorbereiteten Rucksack gesteckt, so dass nur noch das
kleine Köpfchen oben heraus schaut. So geschützt landet die kleine Frostbeule auf meinem Rücken, wo sie die verbleibende
Zeit hier oben verbringen wird, ohne auch nur einen einzigen Mucks von sich zu geben. Stattdessen ziehe ich jetzt so
manchen neidvollen Blick auf mich und höre liebevoll gemeinte Kommentare, die allerdings nicht mir gelten, sondern dem
kleinen Hund.
Unsere Schritte führen uns noch einmal auf den höchsten Abschnitt des Plateaus. Von diesem runden Areal aus will ich noch
einmal den Ausblick in die Weite, über die Berge vor mir, genießen. Am blauen Himmelszelt leuchtet der grelle Sonneball,
der sich nun anschickt, seinen Lauf, zumindest für heute, zu beenden. Während wir zum Bahnhof laufen, versinkt die Sonne
hinter dem zurückbleibenden Hügel und fabriziert dabei kunstvolle Lichtspiele. Hinter uns ist es noch hell, vor uns im Tal
macht sich schon die Dämmerung breit. Die sinkende Sonne wirft einen gigantischen Schatten in die Landschaft vor den
Bergen, den Schatten des Brocken, der langsam in Richtung Horizont wächst und wächst. Was für ein Naturschauspiel! Bei
Abfahrt des Zuges, 16.22 Uhr, wird der Schatten den Horizont übersprungen und sich in den Dunst der Dämmerung
erhoben haben. Dabei entsteht der Eindruck, als wüchse da hinten eine Erhebung aus der Landschaft. Allein dieses
Geschehens wegen, kommen an solchen Tagen viele hier hinauf. Heute ist auch uns das Glück gewogen, einen solchen
Augenblicks mitzuerleben.
Die Fahrt zurück vom Brocken zu dieser Jahreszeit, ist eine Reise aus der Abenddämmerung direkt in die Nacht hinein.
Leuchtete eben die Sonne noch mit einem superhellen Schein, ist der ganze Horizont im Westen urplötzlich in tiefes Rot
getaucht. Schon bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof meint man, der Schnee auf den Bäumen wäre rosa gefärbt. Als wir
unterhalb des Gipfels, auf der Westseite, auf den Gegenzug warten müssen, erinnere ich mich an ein Lied der Czerwone
Gitary aus den 1970er Jahren: „Es brennt der Wald“. Mit dieser Melodie im Hinterkopf bestaune ich das rote Farbenspiel des
Lichts, vor dem sich die dunklen Silhouetten der Bäume abzeichnen. Es scheint, als würde ringsum der Wald verbrennen. So
schön habe ich den Untergang der Sonne noch nie erleben dürfen.
Minuten später rattert der Zug durch den beinahe stockdunklen Hochwald. Man erkennt nur noch die Umrisse des
Wanderweges entlang der Strecke. Unten in Schierke leuchten die Bahnhofslichter und in Drei Annen Hohne ist es Nacht,
schon stockdunkel. Nur am westlichen Horizont hinter den Wipfeln des Waldes leuchtet noch ein hellblauer Schein der
scheidenden Dämmerung. Unsere Schüttel wartet fast als Letzte auf dem Parkplatz, die Scheiben leicht vereist. Noch vom
Erlebten berührt und in Gedanken versunken, tastet sich die Schüttel auf der kurvenreichen Strecke durch den Wald, bringt
uns wieder in die Realität und die Mühen der Ebene zurück. Der Neu-Halberstädter und Neu-Harzer war endlich auf dem
Brocken, auch wenn er dazu noch einmal eine Geh-Hilfe benötigt hat. Es war dennoch die beste Entscheidung des noch
jungen neuen Jahres und ich denke mir, da geht noch mehr.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.