Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Wohnfass Nr. 1 - statt “Haus am See”
(*) 20.07.2021
Wenn man dieses Dasein schon nicht verändern, geschweige denn, verbessern kann, dann möchte ich wenigstens
einmal ausbrechen aus dem täglichen Grußritual des Murmeltiers. Wenn vor der täglichen Reizüberflutung, ganz egal
aus welcher Ecke, kaum noch ein Winkel sicher ist, dann muss ich mir den Ort suchen, wo die Sinne von dieser Flut
verschont bleiben, um danach wieder vernünftig selektieren zu können. „Irgendwann will jeder mal raus aus seiner
Haut“ (**) oder zumindest einen vagen Versuch dazu starten. Solche und ähnliche Gedanken gehen mir durch den
Kopf, als ich nahe Aschersleben von der ehemaligen Bundesstraße 6 in Richtung Süden abbiege. Auf der B180 rollen die
Räder gemächlich der LKW-Schlange hinterher und verlassen die Piste hinter Eisleben wieder. Nach zehn Minuten
glitzert links eine Wasserfläche und dahinter erhebt sich eine stolze Seeburg. Im Ort wird die Straße schmaler und führt
an den alten Mauern vorbei direkt bis zum Campingplatz Seeburg. Angekommen.
In der Rezeption wird uns die neue Anschrift überreicht: Seeburg, Fass Nr. 1 und dieses Wohnfass ist direkt am Süßen
See aufgestellt. Nur ein paar Schritte und etwas Schilf trennen uns vom Wasser, nur wenige Meter nach links oder
rechts entdecke ich einen Steg zum Baden. Minuten später machen wir Bekanntschaft mit dem nassen Element und
ganz allmählich lösen sich mitgebrachte Lasten darin auf und doch ist mir bewusst, dass dieses Wasser anderen
Menschen gerade eine riesige Last ist, die man nur schwer allein stemmen kann. Die Natur macht langsam ernst, zeigt
unsere Grenzen auf.
Vor dem Fass sitzend, mit Blickrichtung geradeaus, fühle ich mich leichter. Hinter dem Schilf kräuselt sich der See und
am Ufer gegenüber leuchtet auf den Hügeln gelb ein Feld mit Sonnenblumen. Nichts scheint die Idylle stören zu
können, denke ich für mich, da watschelt ein Schwan direkt vor dem Fass vorbei, bleibt stehen und schaut mich an.
Mein lieber Schwan, der hat aber die Ruhe weg! Also stehe ich auf, gehe zum „Schwanenkönig“, um mich vorzustellen,
doch er warnt mich mit einem Zischen. Da schauen wir uns lieber mit respektvollem Abstand, Aug in Aug an, dann
watschelt er langsam weiter. Wir werden uns noch oft über den Weg laufen und jedes Mal mit gebührendem Abstand.
Da funktioniert meine neue Bekanntschaft mit der Entenfamilie wesentlich unkomplizierter. Es genügt vollkommen, dass
ich mich vor mein Fass begebe und schon kommt eine nach der anderen neugierig hinter der Hecke hervor. Sie schauen
mich an, nähern sich und schauen mich wieder an. Endlich habe ich begriffen: du sollst mir etwas Brot vor die Füße
werfen. So heftig hatte ich mir diese Bettelei ums Brot nicht vorgestellt. Der Frechste kommt heran bis zu meinen
Füßen, sieht mich an und es scheint ganz so aus, als würde er gleich auf meine Zehen treten. Da hilft nur gezieltes
Ignorieren, einfach wegsehen und nicht beachten. Endlich geht er, um jedoch gleich darauf wieder zurück zu kommen.
Das Ritual wird sich noch oft wiederholen, denn stündlich grüßt hier Schnatterinchen. Gefüttert wirst du nicht!
Was die Enten versuchen, möchte ich auch gern. Vom Campingplatz Seeburg erreicht man in wenigen Minuten
Fußmarsch die Seegaststätte „Seeperle“. Ein ausgedienter Raddampfer ans Ufer gesetzt und zu einem Restaurant
umgebaut, lädt in abflauenden Pandemietagen seine Gäste ein, zu verweilen. Mir ist nach Fisch mit Blick über den See.
Auf einer großen Wiese tummeln sich Badegäste. Während die einen sich ins Wasser trauen, sitzen die anderen auf
Bänken oder liegen im Gras. Der See glitzert im Sonnenlicht und verbreitet angenehm ruhige Stimmung. Auf meinem
Teller präsentiert sich ein Stück panierter „Backfisch“. Der sieht so lecker aus wie die „Backfische“ auf der Wiese, die
Schaulaufen für in die Jahre gekommen Rock-Rentner veranstalten. Das Leben kann trotz Pandemie so schön sein!
Der Blick über den „Süßen See“ bleibt an der Seeburg hängen. Die steht auf einer Erhebung, die sich in den See schiebt
und in der leuchtenden Abendsonne stolz ihre alten Mauern präsentiert. Man kann sich ein Tretboot oder einen
ebensolchen Schwan mieten und sich vom Wasser her nähern. Mir reicht der Anblick des historischen Ensembles von
einer Bank auf der Wiese völlig aus. Von hier kann ich das Treiben auf dem See beobachten oder den Schwänen und
Enten, die es hier auch gibt, zusehen. Es ist diese ausgedehnte Langsamkeit, die ich vermisst hatte und die hier überall
auf mich einströmt. Selbst die Vögel fliegen hier irgendwie langsamer und eine Bachstelze nimmt am Strand ein
ausgiebiges Bad. Die Trampelschwäne am Steg ducken sich hinter das Schilf und das Wasser gluckert im Rhythmus der
Wellen unter den Rümpfen. Der Typ vom Tretboot-Verleih leckt das eigene Eis, während er entspannt auf seine
nächsten Gäste hofft. Es fühlt sich gerade ein wenig an, wie Ostsee en miniature. Mir geht’s gut.
Wieder zurück in der Camping-Oase fällt mir eine Gruppe junger Männer auf. Die bauen gerade ganz eigenartige
Zeltkonstruktionen auf, die an Armee-Equipment erinnern. Bundeswehr, schießt es durch meinen Kopf, doch dann
entdecke ich exklusive Rennräder, abgelegt im Gras oder angelehnt an einen Baum. Einige sehen den Radprofis einer
gerade abgelaufenen Tour zum Verwechseln ähnlich, andere gruppieren sich um ein dunkles Begleitfahrzeug. Als ich sie
frage, erfahre ich von einer Fahrrad-Tour, die sie von Hamburg kommend nach Nürnberg, aber über Dresden, führt. In
Seeburg wollen sie diese eine Nacht verbringen und morgen fahren sie von hier 170 Kilometer nach Dresden. Die Jungs
sehen trainiert und drahtig aus, die schaffen das und haben wahrscheinlich auch noch Spaß dabei. Die Frage nach dem
Preis eines solchen Sportrades kann ich mir auch nicht verkneifen. Nach der Antwort muss ich erst einmal tief Luft holen
und am Wohnfass setze ich mich auf den Allerwertesten. Meine Fresse aber auch, da müssten viele Vollmonde
gerentnert werden, ehe ein Rock-Rentner so einen kostbaren Drahtesel in seinem Stall zu stehen hätte!
Am Abend sitze ich vor dem Fass mit der Nummer 1 und bestaune den „Schwanenkönig“ beim Tanz im Schilf. Über dem
Süßen See wandern tief hängende Wolken und machen ihn zum Silbersee. Ich tauche trotzdem noch einmal in die
Fluten, treffe beim Aussteigen Schnatterinchen am Hundestrand und gehe dann zum Steg. Dort verzaubert die
Abendsonne die Wasserfläche mit tausenden silbernen Glitzerkristallen. Ich bewundere dieses Spiel von Licht und
Schatten, das sich ständig ändert. Diese Szenerie wirkt wie ein gigantischer Scherenschnitt, den man sich einpacken
möchte, um ihn mit nach Hause nehmen zu können. Mit diesen herrlichen Bildern vor Augen begebe ich mich zum
Schlaffass, wo mich wenig später die Nacht in ihre Arme nimmt. Aus dem Schilf am Ufer kommen süße Träume
gekrochen und bald erlebe ich erstaunliche Dinge in Morpheus Armen, die nur ich verstehen kann.
Die Nacht ist, wie beim Rock-Rentner üblich, in zwei gleiche Hälften geteilt. Zum Glück ist der Gang zur Toilette
beleuchtet und selbige bestens ausgestattet. Nach der zweiten Nachthälfte genieße ich die Dusche. Der Chip fällt nur
ein Mal runter, danach ist alles Routine und Mudl startet frisch in den neuen Tag: Kaffee, Schnatterinchen und Erpel
füttern, den „Schwanenkönig“ grüßen und den Wegezoll von allen, die das Wohnfass passieren, einstreichen. Der
beträgt bei mir zwei Kopeken, ist meine eigene Erfindung und löst bei den Passanten ganz unterschiedliche
Fröhlichkeitsbekundungen aus. „Heutige Jungendliche wissen mit Kopeken nichts mehr anzufangen“, sagt sie und
drückt mir später ein Zwei-Cent-Stück in die Hand und meint, „damit wenigstens eine richtig bezahlt.“ Mit ihr verstehe
ich mich danach bestens und viel später meinte sie noch, sie hätte ja von mir auch Wegzoll nehmen können, wenn ich
an ihrem Wohnfass vorüber ginge. Da ist es aber bereits zu spät, weil Abreisetag.
Wenn man den „Süßen See“ in seiner ganzen Schönheit betrachten möchte, muss man die Höhen des Ufers erklimmen.
Hinter dem Campingplatz steigen die Hänge steil an. Dort hinauf führt ein Feldweg mit zwei Spuren aus Schotter. Als
dieser Weg nach fünf Minuten steil ansteigt, ist er mit Betonplatten ausgelegt. Oben angekommen bietet sich den
Augen ein wundervolles Panorama vom See und seiner Umgebung. Der Blick reicht über eine vom Tagebau zerklüftete
Landschaft, aus der hohe Schornsteine ragen und sich Abraumberge wie Zipfelmützen erheben: das Mannfelder Land.
Vor meinen Füßen fällt der mit Strauchwerk und Gestrüpp übersäte Hang steil nach unten bis zum Campingplatz mit
dem See ab. Dazwischen ducken sich, gut versteckt, kleine Bungalows und sogar richtige kleine Datschen. Einer hier
oben besitzt sogar einen Pool mit Aussicht. Als mir auf dem steilsten Wegstück ein dunkler BMW mit Hallenser
Kennzeichen entgegen kommt, weiß ich wieder, dass auch diese kleine Seewelt geteilt ist – in oben und unten. Der
exklusive Luxusfleck auf dem Berg, mit Häuschen, Pool und Car-Port, ist nicht geschaffen für die Gattung Rock-Rentner.
Jeder kleine Schritt runter zum See ist steil, holprig und ungesund für die Knochen. Ich genieße trotzdem die herrliche
Aussicht vom Hochstand auf dem Galgenberg, wo sich Fuchshöhlen in den bunten Blumenwiesen verstecken sollen.
Am Nachmittag lockt mich wieder die Liegewiese am Nordstrand. Ein Imbiss bietet seinen Gästen eine „HO-Bemme“,
bestehend aus Bemme, Schnitzel und Setzei, an. Die Bemme spendiere ich später den Enten, Schnitzel und zwei
Spiegeleier sind ein Hochgenuss für meinen Gaumen. Das Schloss Seeburg im Blick, die spiegelglatte Wasserfläche vor
Augen und eine „HO-Bemme“ im Magen, fühle ich mich in paradiesischen Zeiten angekommen. Einige Urlauber
erkunden den See mit ihren Tretbooten und ein weißes Segel kann ich auch entdecken. Wenn jetzt noch irgendwo
irgendjemand zur Gitarre „(Sittin’ On) The Dock Of The Bay“ singen würde, wäre die Illusion perfekt und ein Rock-
Rentner zufrieden mit sich und der Welt. Im Radio vom Tretboot-Verleih singt die Stimme von Udo Jürgens „Mit 66
Jahren, da fängt das Leben an“. Der Mann wusste, wovon er singt.
Es sind eine Menge schöne Sachen in diesen zwei Tagen passiert. Ganz ohne Radio, Reality-TV und Internetzugang
reduziert sich das Leben wieder auf die grundlegenden Dinge. Das schönste Fernseh-Bild ist der ruhig liegende See am
Abend und die Schnatterenten ersetzen jeglichen Ausrutscher auf dem Parkett von Politik und den Bühnen der
Eitelkeiten. Wenn Bachstelze und Stieglitz im Schilf und Gras unter der alten Weide am Ufer noch genügend Insekten
finden, scheint die Welt noch halbwegs im Gleichgewicht. Auf dem Badesteg genieße ich den Sonnenuntergang am See.
Dieser glühend rote Lebensspender versinkt allmählich hinter den aufsteigenden Uferhängen und taucht den See und
den Himmel in ein atemberaubendes Spektakel aus Licht, Farben und Effekten. Ich stehe in einer kleinen
Menschentraube, schaue in deren glückliche Gesichter mit strahlenden Augen und eine Liedzeile von Gundermann, dem
Lausitzer Bruder, kommt mir in den Sinn: „So poppig bunte Wundertüten kann ich dir nicht bieten, nur’n richtig guten
Sonnenuntergang.“ (***) Lieder eines Baggerfahrers sind allemal haltbarer als das Reden von Demokratie und Freiheit,
die wir schon längst abgeschrieben und umgedeutet haben. Die Natur führt gerade den Gegenbeweis. Fünf vor Zwölf
war einmal.
Der Morgen danach sieht mich wieder beim Füttern der Enten. Es ist Zeit, dem „Süßen See“ Adieu zu sagen, sich zu
verabschieden. Die Siebensachen (oder waren es doch mehr?) landen im Kofferraum. Klappe zu, bezahlen und ab durch
das Tor, vorbei an der „Seeperle“. Am alten Seeschloss stellen wir das Gefährt noch einmal ab. Zwischen den alten
Mauern wollen wir unsere Neugeier stillen und hoffen auf einen Abschiedsblick über den See. Aus der Nähe macht das
Gemäuer keinen guten Eindruck. Nur der Eingangsbereich, der sich als „Privatresidenz“ herausstellt, sieht gepflegt (und
ziemlich teuer) aus. Geht man daran vorbei in den hinteren Bereich, verändert sich das Bild. Ein Hoftor mit einem Kürzel
aus Stahl lässt ahnen, was in der DDR hier zu finden war: BHG. Der Innenhof der eigentlichen Anlage ist verschlossen:
Privatgelände. Eine schmucke Limousine mit dem „K“ im Kennzeichen parkt in dem verwilderten und verfallenen
Anwesen. Einzig die Seeterrassen mit dem Restaurant und dem Anleger für Segeljachten hinterlassen einen gepflegten
Eindruck und den etwas faden Nachgeschmack, dass Otto Normalo hier ausgeschlossen scheint. Mir bleibt die
Erkenntnis, dass Fass Nr. 1 die richtige Wahl gewesen und die Schloss-Herberge nichts für mich ist. Erholung und
Lebensfreude können auf dicke alte Mauern verzichten. Manchmal genügt schon ein Holzfass, um zu sich selbst zu
finden und Leben zu fühlen. Der Harz, die Pandemie und ein paar andere Unwichtigkeiten haben mich etwas verändert,
mich sensibler und demütiger gemacht. Dennoch bin ich mir, so hoffe ich wenigstens, treu geblieben.
*) “Haus am See” - Peter Fox
**) “Als ich wie ein Vogel war” - Klaus Renft Combo
***) “Brundhilde” - Gerhard Gundermann