Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
                                      Ich bin der  RockRentner im Harz
          und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Engerling – Jubiläumskonzert zum 45. in Magdeburg                                                05.10.2019 (Mein erstes Stehkonzert als nunmehr 70-jähringer Rock-Rentner.) Im Januar 1975 standen im Gasthof von Mahlow, im Süden von Berlin, fünf Jungs auf der Bühne, um gemeinsam Blues zu spielen. Das geschah genau in jenem Nest, in dem ich ein paar Jahre zuvor einen Teil meiner jungen Lebenszeit in Uniform und kurzen Haaren verplempern musste. Doch im November 1979, vier Jahre nach der Bandgründung, hatte ich die Blues-Kapelle ENGERLING auf meiner Bühne in Plessa. Seitdem sind 40 Jahre vergangen und noch immer bringt die Band um WOLFRAM BODAG ihre Spielweise des Blues auf die Bühnenbretter zwischen Fichtelberg und Kap Arkona. Wie doch die Zeiten vergehen und manches sich dennoch so anfühlt, als wäre es erst gestern geschehen. Grund genug für mich, wieder einmal ENGERLING im Konzert zu besuchen. Auf in die Magdeburger Feuerwache! Die ist kurz vor 20.00 Uhr mit Bier trinkenden Alt-Kunden sowie fein gestylten Rock-Ladies gefüllt. In das Durcheinander der Gespräche schummelt sich das Spiel einer Gitarre. Noch zögerlich, schält sich nach und nach ein steinaltes Riff aus den Saiten. In meinem Kopf macht es leise „Bingo!“, denn auf diese Weise kündigt sich nur ein einziger „kleiner roter Hahn“ an: „I’m the little red rooster, too lazy to crow for day“. Gott, wie ich diese ollen Kamellen liebe, noch dazu, wenn sie so liebevoll streichelnd in die Ohren sacken und HEINER WITTE mit der Gitarre filigran Fleetwood Mac’s „Albatross“ in die alte Nummer einfließen lässt! Und wer vielleicht meint, der „rote Hahn“ hätte etwas mit Feuer zu tun, der irrt. Gemeint ist der Weiberheld, „meine sehr verehrten Damen und Herren in der Feuerwache“, so die Ansprache von Herrn BODAG, der den „Weiberheld“ von Howlin’ Wolf, bekannt durch die Version der Rolling Stones, mit einem feinen Orgel- Solo zu schminken versteht. Mir geht’s gut, so kann es weitergehen. Mit „Ain’t nobody white (can sing the blues)“ wird der Wunsch erhört. Der (ost)deutsche Sänger covert seinen amerikanischen Frontmann Mitch Ryder und grinst uns von da vorn zu, während er seine Orgel mit der Gitarre auf der anderen Bühneseite ein Zwiegespräch führen lässt. Es ist ein Genuss zu erleben, wie sich beide Ur-Engerlinge blind verstehen! Ich stehe, an eine Säule gelehnt, direkt vor HEINER WITTE und kann das Spiel seiner Finger zwischen den Bünden bewundern, wie sie den „Zug und die weiße Ziege“ (1977) über die Bühne jagen. Diese paar Minuten erinnern mich wieder an jenes Konzert im November vor 40 Jahren, das ich selbst eingefädelt hatte, um mir einen Wunsch zu erfüllen. Nur die Abfolge der Songs war damals eine andere und, was sich heute kaum jemand vorzustellen vermag, unser Publikum saß, gut sortiert und brav, auf Stuhlreihen im Saal. Ich aber stehe, mit nunmehr 70 Lenzen, an der Rampe und wünschte, ich hätte einen Stuhl unter dem Arsch. Wie sich doch die Zeiten ändern! Diesen Song von den sich ändernden Zeiten veröffentlichte Dylan auf seinem dritten Studioalbum mit gleichem Titel. „The Times They Are A-Changing“ erschien 1964, ich kam zur Penne und genau diese Melodie war eine der Inspirationen für mich, mein Denken zu ändern. Dass der Text 30 Jahre später eine politische Umwälzung in meinem Heimatland beschreiben würde, berührt mich so lange danach noch immer sehr, zumal BODDI BODAG für „Es kommen andere Zeiten“ sehr nachhaltige Worte fand: „Fangt an, zu schwimmen, oder sinkt wie ein Stein, denn es kommen andere Zeiten!“ Ich staune jedes Mal, welches Potential in den Liedern des singenden Nobelpreisträgers steckt und wie ENGERLING die Worte des Meisters in unserer Sprache transformiert. Da freut sich der Rock-Rentner und vergisst die schmerzenden Beine, auf denen er steht. Es folgen mit „Legoland“, dem wunderschönen „Herbstlied“ mit feinem Mundispiel und „So oder so“ weitere Klassiker sowie mit „Jessica“ ein hinreißend gespieltes Instrumentalstück der Allman Brothers. Was für eine wundervoll breit gefächerte Sound-Palette und alles ist irgendwie Blues’n’Rock und zudem typisch für diese besondere Gattung Maikäfer aus Berlin. Noch eine Erinnerung: Im Oktober 2007 erlebte ich Mike Harrison im Brauhaus zu Finsterwalde und Gerd Leiser, der Engerling-Manager, begleitete die Tour. Heute Abend bin ich dabei, wie ENGERLING „I Am The Walrus“ der Beatles in der schwermütigen lasziven Version von Spooky Tooth spielen und wieder begeistert mich WOLFRAM „Boddi“ BODAG. Der Mann dehnt und zerrt den Song, zerhackt das Stottern des imaginären Walrosses, lässt es jammern, schreien und wütend stampfen. Mike Harrison, Gott hab’ ihn selig, hätte seine Freude, diese magisch pulsierenden Minuten zu erleben. Ganz ähnlich magisch empfinde ich, wie die Herren BODAG & WITTE, sowie die Rhythmus-Sektion POKRANDT am Bass und SCHULZE am Schlagzeug, den Stones-Klassiker „Play With Fire“, die B-Seite der damaligen Single „The Last Time“ (1965), in das Heute holen. Ich fühle förmlich, wie das Zeitgefühl jener Tage unter meiner Haut nach oben kriecht und mein Herz erwärmt. Erst recht, als die Musiker einen Break in den Song einschieben und ihn plötzlich einen Zacken schärfer in die Menge schleudern. So genial! Wir bekommen mit dem „Engerling Blues“ und dem „Erlenkönig“ zwei weitere Klassiker serviert und danach starten BODAG & Co. mit John Cale’s „The Hunt“ eine wilde rhythmische Hatz, dass die Fetzen fliegen. Es macht mir Spaß, die instrumentalen Fertigkeiten zu bewundern und auch, wie Fans neben mir ihrem Bewegungsdrang freien Lauf lassen. Einige tanzen vor der Bühne, andere schauen verzückt dem Tastenmann auf die Finger, der sein Boogie-Piano für „Da hilft kein Jammern“ unter Dampf setzt und zu singen beginnt: „Oh nein, da hilft kein Jammern!“. Der Chor der ersten Reihen stimmt in das selbstironische Klagelied ein. Der Sänger aber füllt jedes Wort, ja jede Zeile, genüsslich mit Leben und setzt die Betonungen genau dort, wo die Ironie zuschnappt. Erwischt! Ich kenne keinen hierzulande, dem es gelingt, den eigenen Worten noch immer so viel Enthusiasmus, freundliche Ironie und dieses unglaubliche Charisma in der Stimme beizufügen, dass sie nach vielen Jahren noch unbändige Lust  auszustrahlen vermag. Ganz genau so klingt für mich Blues und er, BODDI, ist einer seiner ultimativen Botschafter. Punkt! Seit einem intensiven Erlebnis zu Beginn dieses Jahres, ist der „Narkoseblues“ auf seltsame Weise in mir verankert. Der ist mir, so seltsam das klingen mag, oft nachts im Krankenbett durch meinen Kopf geschlichen. Nun stehe ich, wie betäubt, vor dieser Bühne und erlebe ein Deja Vu, während BODDI an den Tasten Wort für Wort, einem Tropf gleich und wie hilflos stöhnend, in sein Mikro träufelt: „Hier kommt der Mann mit seinem weißen Kittel, hat sich vor meinem Bette aufgebaut. Er schiebt recht eifrig neue Nadeln und Plasteschläuche in mich rein und sagt, als ob ich nicht verstünde: Das arme Schwein.“ Der Song zieht und dehnt sich, als wäre da noch immer irgendwie diese Schmerzpumpe. Ich genieße diese Minuten teilweise mit geschlossenen Augen, während die Band, fast wie im Trance, die Melodien verstorbener Rock-Größen in ihren Blues einbettet: „Apfeltraum“ von Cäsar, „White Room“ von Cream, „Space Oddity“ von David Bowie, „Free Falling“ von Tom Petty und „Ring Of Fire“ von Johnny Cash in der Version der Animals. Mein Körper schwingt im gleitenden Rhythmus, ich schwelge in den Melodien meiner Idole und bin heilfroh, den Weißkitteln entronnen zu sein, auch wenn ich ihnen sehr dankbar bin. Doch die Konzerte wie dieses sind mein eigentliches Lebenselixier. Hier kann ich Energie tanken, wie andere bei einem Bungee-Sprung, nur dass so ein Konzert erst nach zwei Stunden ausklingt. Der Kick hält länger, auch wenn sich vor mir gerade die Musiker von ENGERLING verabschieden wollen. Nur wenige Augenblicke später sitzt BODDI BODAG, diesmal solo, wieder an den Tasten. Aus seinem Spiel schält sich allmählich „Mama Wilson“ heraus. HEINER, MANNE und HANNES kommen hinzu und gemeinsam schenken sie uns „Hat nichts gebracht (du bringst mich besser nach Haus heut’ Nacht)“, das Lied auf den Heimweg, das irgendwann in „Catch The Wind“ (Donovan) hinüber gleitet und dann ausklingt, indem die vier Engerlinge nacheinander die Instrumente abstellen und die Bühne verlassen. Mein erstes Stehkonzert als 70-jähriger Rock-Rentner ist zu Ende. Meine Knochen meckern, das Herz aber fühlt sich jung, dank einer wundervollen Song-Auswahl und einer Adrenalin versprühenden Band. Die Jahre mögen vergehen, denke ich, die Erinnerungen aber bleiben und die Zukunft beginnt jeden Tag neu. Morgen zum Beispiel.