Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Zur Leistenklippe – Gedanken unterm Gipfel
10.08.2023
Gestern war ein schlimmer Tag. Er begann mit einem schweren Schlag: Elisabeth, meine schottische „Schwester“ von
den Orkney Inseln, hat ihren jahrelangen Kampf gegen den Scheiß-Krebs verloren. Sie wurde nur 66 Jahre alt. Da sollte
eigentlich das Leben beginnen, sang schon Udo Jürgens. Unfair und gemein sind noch meine harmlosesten Gedanken.
Ich hab’ mich über den Tag gequält und am Abend beschlossen, morgen eine andere „Qual“ auf mich zu nehmen. Jetzt
ist morgen und die Sonne scheint. Der Harz lockt und die Leistenklippen, auf 901 Meter, dürfen sich über einen Besuch
von mir freuen. Ich muss raus in die Natur, meine Knochen spüren, damit der Kopf wieder zur Ruhe kommt. Der
Stempel von der Leistenklippe, ein Teil des Hohnekamms, soll endlich mein Wanderheft zieren. Doch der ist nicht
einfach erreichbar. Ich werde mich quälen müssen. Wie sehr, das ahne ich nicht.
Kurz nach 9.00 Uhr ist der Parkplatz am Bahnhof Drei Annen Hohne noch fast leer. Ein Tagesticket sollte mir genug Zeit
und Ruhe verschaffen. Minuten später gehe ich schon im Nationalpark Harz auf der Piste. Vor mir liegen locker vier
Kilometer und rund 350 Meter nach oben. Der Weg führt wieder am „Lilybaum“ vorbei, ich werde überholt und treffe ein
Paar, das auch zur Leistenklippe möchte. Die beiden werden mir ständig einen Schritt voraus sein. Dafür schleppe ich
zwei Dekaden mehr Ballast. Gegen 10.00 Uhr erreiche ich den Rastplatz an der Kreuzung zum obersten Hangweg. Der
Teddy im Rucksack meint, ich sollte eine Pause einlegen. Eine gute Idee, denn ich schnaufe wie die Dampflok zum
Brocken. Während ich meine Körpertemperatur reguliere, werde ich von diesem Paar überholt. Zehn Minuten später gibt
es auch für mich kein zurück mehr. Der Planet drückt, der Wind ist kühl und der Schweiß rinnt aus allen Poren. Jetzt
beginnen der Kampf gegen den inneren Schweinehund und der um die Leistenklippe.
Der Hangweg führt natürlich am Hang entlang. Links die abgestorbenen Fichten, rechts der fast freie Blick zum
Erlebniszentrum Hohnehof und darüber hinaus. Wäre hier noch dichter Wald, wäre von all dem nichts zu sehen. Mich
erfreut diese Weite, die wie auf einem Tablett vor mir liegt. Diese Freude wärt jedoch nicht lange. Ein Wegweiser zeigt
mir den Trampelpfad links in den Hang und damit in den toten Wald hinein, steil nach oben. Schon nach wenigen
Schritten merke ich, dass Amateurwandern ein anstrengendes Unternehmen sein kann. Der tote Wald ist dicht, aber voll
blühender Pflanzen und dieser Pfad hört nicht auf, steil zu sein. Jedes Mal, wenn ich glaube, der Anstieg sei zu Ende,
folgt der nächste noch steilere. Ich muss mehrmals aussetzen, quäle mich aber weiter. Meine Pumpe rast wie wild, T-
Shirt und Hemd sind nass geschwitzt, doch es wird noch steiler. Am Ende aller Steigungen, so meine Hoffnung, folgt
eine flache Lichtung in luftiger Höhe, eine Wiese. Der Pfad schlängelt sich durch grüne Drei-Meter-Tannen, aber es
bleibt dabei: steil, steil und noch mehr steil. Als es endlich etwas flacher wird, kann ich bis ins Tal schauen. Ein leichter
Wind kühlt mich ab. Mit so ziemlich letzter Kraft erreiche ich eine Lichtung zwischen halbhohen Tannen. Am Boden
liegen tote Stämme, die langsam vermodern und auf ihnen sitzend, empfängt mich wieder das Wanderpaar. Während
ich wie ein altes Walross schnaufe und mich zu ihnen schleppe, brechen beide Wanderer schon wieder auf, um den
noch verbleibenden Kilometer unter ihre Wanderschuhe zu nehmen: „Tschüß und bis nachher an der Klippe!“ Ich
hingegen bin ziemlich zermatscht, kaputt – Pause!
Eine kleine Schutzhütte oder wenigstens eine Bank zum Verschnaufen wäre jetzt prima. Doch wer soll die Bohlen hier
hinauf schleppen? Also setze ich mich auf so einen zerbröselnden Stamm. Hauptsache sitzen, etwas trinken und eine
Gurke kauen. Es ist wunderschön hier. Nur kniehohes Gestrüpp und die grünen Bäume ringsum. Die haben einst dem
Orkan widerstanden und lassen das Todholz vergessen. Als ich ein paar große Steinbrocken hinter dem Grün entdecke,
macht es bei mir klick. Das hier ist der Hohnekopf, quasi der östliche Beginn der Hohneklippen. Die ziehen sich als
riesige Granitblöcke etwa drei Kilometer in rund 900 Meter Höhe auf dem Hohnekamm entlang. Zum Wandern in rauer
schöner Natur bestens geeignet, wenn man es ursprünglich liebt, und zum Schwitzen auch, denn man muss vorher auf
diese Berge gelangen. Eine Haltestelle für Touristen- und Ausflugsbusse gibt es hier nicht. Gut so!
Gegen 11.00 Uhr breche ich wieder auf, zur Leistenklippe. Es sind ja nur noch 900 Meter, ist auf dem Brett am Baum zu
lesen. Wieder tauche ich in den Wald ein, diesmal aber ist er grün und frisch. Doch sofort merke ich, dass dies nicht
einfach ein Wanderweg oder Trampelpfad ist. Man geht wortwörtlich über Stock und Stein. Jeder Schritt ist einer zum
oder über den nächsten Stein und der kann auch mal so groß wie ein Kissen oder ein Koffer sein. Es liegen sogar noch
viel größere Brocken rum. Also lasse ich mir Zeit, bin vorsichtig, möchte nicht stolpern. Ehe ich richtig starte, riskiere ich
einige Schritte ins Dickicht, zwischen die Bäume. Wenn ich schon mal hier bin, dann will ich auch den Granitblock sehen,
diesen Steinhaufen, den man Hohnekopf nennt. Der liegt aufgestapelt nur ein paar Meter neben der „Waldpiste“
zwischen Bäumen und sieht völlig unspektakulär aus. Danach nehme auch ich den letzten Streckenabschnitt ins Visier.
Schon nach wenigen Metern merke ich, das wird nicht leichter, nur weil ich nicht mehr bergan steigen muss. Im
Gegenteil: Dieser „Weg“ windet sich über Steine jeglicher Größe und Gestalt, zwängt sich an Bäumen und deren Ästen
vorbei und scheint wild, zauberhaft und magisch zu sein. Am Rand wachsen Heidel- und Preiselbeeren und es duftet
nach Pilzen. Ich balanciere über Steine oder suche den besten Weg dazwischen. Fasziniert von diesem Märchenwald
habe ich kein Gefühl mehr, wie weit es noch ist. Kleine Senken wechseln sich mit sonnigen Lichtungen auf denen
Wanderer Beeren naschen. Der Pfad ist schmal, oft nur zu erahnen und manchmal geben die Bäume und Felsen den
Blick ins Tal frei. Die Qualen des Aufstiegs sind längst vergessen, diese Steine und Spalten verlangen volle
Aufmerksamkeit, will man nicht auf ihnen landen. Dennoch ist Wandern hier das reine Vergnügen. Mein Körper ist völlig
ausgepowert und der Kopf frei, kein Gedanke an irgendwas. Der Weg durch die Natur ist das Ereignis.
Das Ziel befindet sich inzwischen irgendwo vor mir, zwischen Bäumen oder am Ende des Weges, der keiner ist. Der wird
hier vom Wasser durchtränkt, das aus dem moorigen Boden drängt. Ich „springe“ jetzt von Stein zu Stein, mich auf
meinen Wanderstab stützend. Endlich schimmert ein grüner Kasten voraus. Stempelstelle erreicht, Abenteuerspielplatz
ist bewältigt. Ich bin erleichtert, glücklich und platt wie ’ne Flunder. Von oben kommt mir schon das Wanderpaar
entgegen. Noch einen Gruß, dann sind beide im dichten Wald entschwunden. Meine Kraft reicht gerade noch, um die
Nummer 15 ins Heft zu stempeln, dann ist erst einmal Pumpe, ehe ich doch noch den finalen Kletterabschnitt auf die
unteren Granitsteine und über die steile Leiter zum Gipfel wage. Pünktlich „high noon“ stehe ich oben auf der
Leistenklippe auf 901 Meter.
So ein Rundblick bei diesem Wetter kann einen umhauen, die Sprache verschlagen, weil man ohnehin keine Worte
findet. Zumindest geht es mir in diesem Augenblick so. Ich bin fasziniert und fühle mich ganz klein, geradezu winzig,
inmitten einer gigantischen Weite. In deren scheinbaren Zentrum posiere ich stolz auf dem Gipfel. Um mich herum nur
riesige Steinhaufen, darunter dichter Wald und dahinter Berge, Hügel und ganz viel Ebene bis zum Horizont. Nur ein
paar Kilometer entfernt ragt der Brocken empor, der ein wenig vom Landmann, dem westlichen Ende der Hohneklippen,
verdeckt wird. Das ist faszinierend schön anzusehen. Die Augen wandern über die Klippen bis zum Berg mit dem
Sendemast und von da hinüber zum Wurmberg, dessen kahle Schneisen für den Wintersport wie hässliche Narben
anmuten. In den Tälern dazwischen immer noch viel toter Wald, aber auch schon grüne Flecken, die noch einige Jahre
brauchen werden, um deutlich hervorzustechen. Mir kommt Goethe in den Sinn, der im Faust 2 für den besonderen
Augenblick die Worte schrieb: „Verweile doch, du bist so schön.“
Für ein paar Minuten genieße ich den Zauber der Natur und des Gipfels. War ich eben noch allein hier, so sind wir
plötzlich eine kleine Gemeinschaft aus Mecklenburgern, Niederländern und Einheimischen. Es wird eng auf dem kleinen
Plateau und ich spüre langsam einen kleinen Appetit. Wieder unten, esse ich eine Kleinigkeit und schaue mich noch
einmal im Gewirr von Bäumen, Sträuchern und Steinen um. Ich fühle mich irgendwie erleichtert und glücklich, den
Aufstieg hierher bewältigt zu haben. Mein Lohn sind ein total erschöpfter Körper und mehr Klarheit im Kopf. Da oben
habe ich die Hand von Elisabeth berührt, sie auch wieder frei gelassen, ohne Schmerzen und mit großer Dankbarkeit für
das Geschenk ihrer einzigartigen Freundschaft. Gute Reise, liebe Liz …
Die Sonne steht im Zenit. Im Hochwald wechseln grell und dunkel. Ich muss aufpassen, möchte nicht stolpern. Zurück
ist das Holpergelände ebenso so schwierig, wie beim Aufstieg. Die Mittagsstunde ist feucht und meine Klamotten auch.
Auf der Lichtung angekommen, entledige ich mich meines Hemdes. Jetzt verschafft mir der Wind etwas Kühlung, mein
Herzmotor läuft gleichmäßig ohne Anstrengungen. Dafür spüre ich allmählich meinen Rücken, je steiler es abwärts geht.
Meinen ursprünglichen Plan, den Weg zurück über die Spinne und den Trudenstein zu gehen, lasse ich fallen. Zu steil
und zu schwierig. Auf der Hangwiese kommt mir von unten ein Mountainbiker schnaufend entgegen. Es wundert mich
nicht mehr. Solche „Verrückten“ durfte ich schon auf ganz anderen steilen Strecken bestaunen. Wofür ich eine ganze
Stunde bergan benötigt habe, gehe ich jetzt in einer halben abwärts.
An der Kreuzung mit der Bank brauche ich eine letzte Pause, der Rücken streikt. Mit dem Trinkwasser muss ich meinen
Kopf kühlen. In mir tobt leise ein Glücksgefühl, heute endlich dieses Vorhaben zum Abschluss gebracht zu haben. Vor
mir liegen jetzt noch lange zwei Kilometer hinunter zum Parkplatz. Die Quälerei nach oben und die schlimmere nach
unten konnte meine Trauer um Elisabeth ein wenig verdrängen. Das ist kein Trost, denn der innere Schmerz wird noch
lange andauern. Ich bin unsagbar stolz, fünfzig Jahre meines Lebens mit lieben Menschen auf den Schottischen Orkney
Inseln geteilt zu haben. Diese Zeit hat mich geprägt, die Erinnerungen an Elisabeth werden bleiben. David, Tom und
auch Rhonda leben auch dort, deshalb wird der Faden nicht reißen. Freundschaft ist ein großartiges Geschenk und der
Harz mein Platz zum das Älterwerden.