Entdeckungen am Regenstein
01.11.2015
Zwischen Langenstein, dem kleinen Ort unterm Hoppelberg, und dem Städtchen Blankenburg, direkt zu Füßen des Harz
gelegen, ragt auf einem Hügel graues kahles Felsgestein knapp 300 Meter aus den Baumkronen heraus. Es sind die Reste
einer Burg der Grafen von Regenstein, von der heute nur noch der felsige Untergrund und einige dort hineingeschlagene
Räume zu sehen sind. Bei schönem Wetter macht es Spaß, von dort in die Landschaft zu schauen. Wenn der Wind weht,
herrscht überall in den Löchern Durchzug und wenn es regnet, ist es ziemlich unangenehm und man muss beim Laufen
über den felsigen Untergrund sehr aufpassen.
Das weiß auch Lily, die kleine Hundedame. Heute erkundet sie die alte Felsruine, obwohl es ein wenig regnet. Sie will mit
eigenen Hundeaugen sehen, wo man vor Jahrhunderten im Fels gehaust hat. Also besteigt sie mit ihren kleinen
Stummelbeinchen, immer der Hundenase dem Straßenverlauf folgend, die Anhöhe, bis sie das große Tor erreicht. Dahinter
beginnt das eigentliche Burggelände und Lily darf nur noch an der Leine geführt werden. Das übernimmt der alte Ritter
Rentner, der jetzt in Halberstadt zu Hause ist. Gemeinsam laufen beide über das weite Vorgelände dem eigentlichen Felsen
entgegen. Der befindet sich auf einem Plateau und ragt trotzig und majestätisch hoch über die Landschaft. Es ist schon
sehr beeindruckend, den dunklen Felsen mit seinen vielen Löchern darin, wie ein unwirkliches Gebilde, vor der Nase zu
haben. Links fällt der Abhang ziemlich steil nach unten in die Baumwipfel und rechts säumen in den Fels gehauene Nischen
den Weg. Endlich auf dem Plateau angekommen, treten Hund und Herrchen an die Mauer und bestaunen den Blick über
die dichten Wälder, die sich von der Ruine bis zum Hoppelberg bei Langenstein erstrecken, der sich aus dem nebligen
Dunst abzeichnet. Mitten im Grün des Waldes ist ein kleiner weißer Flecken zu sehen, die Sandsteinhöhlen, die wie eine
Narbe aus der Ferne nach oben leuchtet. Um mehr zu sehen, müsste man ein Fernglas haben oder die Stelle im Wald zu
Fuß besuchen.
Doch zunächst einmal tippeln die kurzen Hundebeinchen auf dem Weg, vorbei an den Kasematten im Fels, die im 17.
Jahrhundert als Ställe genutzt wurden, zum höchsten Punkt. Über das von tausenden Füßen ausgetretene Felsgestein geht
es, stets am Geländer entlang, nun zur eigentlichen Burganlage. Die kleine Lily steht vor riesigen Löchern, durch die man in
große Räume schauen kann, und sie geht durch einen langen Gang, von dem aus weitere Räume abzweigen. Überall sind
große Öffnungen, um das Tageslicht herein zu lassen. Es muss hier ganz fürchterlich gezogen haben, denke ich mir, und
Lily zieht ihren Schwanz ein, weil ihr das alles wahrscheinlich sehr unheimlich vorkommt. Wo hat man hier geschlafen und
wie hat man sich vor der Kälte oder Feuchtigkeit geschützt, frage ich mich. Bei aller Romantik und bei allem Staunen bin ich
sehr glücklich, mein Bett zu Hause zu wissen. Den Gedanken muss Lily auch gehabt haben, so wie sich mich ansieht. Nichts
wie raus aus dieser Enge und an die frische Luft!
Wir klettern auf den höchsten Punkt der Anlage. Trotz des trüben Wetters öffnet sich ein wundervoller Blick weit über das
Land. Direkt zu unseren Füßen, beinahe wie ein Lageplan, zeichnet sich die ganze Burganlage auf felsigem Untergrund ab.
Da ziehe ich dann doch gedanklich meinen Hut vor der Arbeit all derer, die das hier einst schufen und vor denen, die hier
oben lebten. Es ist die raue Schönheit, die friedliche und harmonische Einheit von Natur und menschlicher Leistung, die
jeder Besucher hier oben bestaunen kann. Auch die kleine Lily schnüffelt über die Reste von Mauern und Nischen bis vor
zum Abgrund, über den sie mutig ihre Hundenase reckt. Aus dem Fels heraus sind Sträucher und Bäume gewachsen, die
wie natürlicher Schmuck die bizarre Schönheit unterstreichen. Man muss nicht nach Mallorca fliegen, um etwas zu erleben,
oder nach Lanzarote, um wilde Natur zu bestaunen. Diesem Flecken Erde, direkt vor unserer Nase, kann man auch eine
Menge Reize abgewinnen (obwohl mir die Tage auf Lanzarote noch immer eine schöne Erinnerung sind).
Lily nimmt einen kräftigen Schluck aus einer Mulde, in der sich Regenwasser gesammelt hat. Im Gras schnüffelt sie
fremden Gerüchen hinterher, so wie wir Menschen neugierig in unbekannten Magazinen blättern. Lily liest Hundezeitung
oder vielleicht sogar eine längst vergessene Wegbeschreibung. Leider kann sie nichts erzählen, aber sie zieht den Ritter
Rentner weiter über das Plateau, durch Gänge und schmale Spalten, von denen man über die Landschaft sehen kann. Der
Rentner steigt schwitzend über das Gestein und Lily blickt mit heraushängender Zunge von oben auf die Hundewelt. Selbst
an einem trüben Tag wie diesem, erliegen wir beide der Faszination der Landschaft zu Fuße des Harz, um dem sich die
Wolken sammeln und die Sonne dennoch ein Loch findet. Sie zwängt die wärmenden Strahlen hindurch, die wie lange
Finger die Landschaft ertasten. Wir haben versteinerte Erdgeschichte unter unseren Füßen, der kleine Mensch und ein noch
kleinerer Hund, und sind beide sehr glücklich, einen Anblick genießen zu dürfen, den ein Caspar David Friedrich mit Farben
auf einer Leinwand verewigt haben könnte.
Minuten später laufen Lily und Herrchen wieder den Berg hinunter. Die Felsruine liegt hinter und ein neues Ziel vor uns.
Unten, wo die Straße aus dem Wald heraus führt, wenden wir uns nach rechts, wieder in den Wald, der sich weit zu Füßen
der Regensteinburg ausbreitet, hinein. Wir laufen auf einem schmalen Pfad und Lily rennt schnell voraus. Sie braucht keine
Leine mehr, hier kann sie sich austoben. Der Wolkenhimmel ist inzwischen aufgerissen und die wärmenden Sonnenstrahlen
zwängen sich durch das Blätterdach bis auf den Waldboden. Die langen Schatten der Bäumen liegen über dem Wanderweg,
der sich in nicht enden wollenden Kurven und Biegungen über Hügel und durch Senken schlängelt. An einer Lichtung steht
eine Bank „für Papi“, auf der sich der Rentner in mir, mitsamt der Lily im Arm, ein wenig ausruhen kann, ehe wir dem Lauf
des Pfades weiter folgen. Immer tiefer in den vom Licht durchfluteten Wald hinein. Und dann, ganz plötzlich, hinter einer
Biegung, öffnet sich ein kleines Tal, an dessen Ende eine felsige Wand, mit zwei gewaltigen Wasserrädern aus Holz, empor
ragt. Wir haben die Regensteinmühle erreicht.
Diese alte Anlage aus dem 12. Jahrhundert wurde ungefähr dreihundert Jahre als Mahl- und Ölmühle genutzt. Dafür wurde
das Wasser in einem über zwei Kilometer langen Graben bis an diese Stelle im Wald transportiert. Doch im Laufe der
folgenden Jahrhunderte verfiel das Bauwerk und wurde sogar in das Verteidigungssystem der Burg Regenstein integriert.
Heute sieht man von der einstigen Mühle nur noch die Reste, die sich die Natur noch nicht zurückerobern konnte. Erst in
unseren Nachwendejahren fanden sich engagierte Bürger, die begannen, sich für die Historie der Mühle zu interessieren.
Aus den Resten der beiden verfallenen Mühlräder wurden zwei neue Räder rekonstruiert, die der Wanderer an dieser Stelle
bewundern kann. Man steht davor und bekommt eine klitzekleine Ahnung davon, wie es hier vielleicht einmal ausgesehen
haben könnte. Ich stehe vor den beiden hölzernen Zeitzeugen, die im Gestein verankert sind, schließe meine Augen und
stelle mir vor, wie das Wasser von oben über den Fels auf die Räder und dann mit lautem Rauschen hinunter ins Tal fließt.
Das Ganze erinnert mich an eine alte Filmkulisse und dennoch weht hier der Hauch von Geschichte aus vielen hundert
Jahren, haben hier Menschen für ein kärgliches Leben geschuftet. Bei aller Bewunderung über die Schönheit dieses stillen
Ortes vergisst man gern, dass ihn Menschen gestaltet und genutzt haben. Sicher hatten sie auch einen Hund wie unsere
kleine Lily, die sich hier aber für ganz andere Dinge interessiert. Sie hat Durst und nimmt erst einmal einen kräftigen
Schluck aus der Wasserflasche. Ich hätte jetzt nichts gegen ein kühles Bier aus dem Hahn einzuwenden.
Am Felsgestein vorbei führt ein ganz schmaler Stieg nach oben. Gemeinsam mit Lily riskiere ich einen Blick über die beiden
Räder, jeweils vier bzw. fünf Meter im Durchmesser, und schaue den Lauf des kleinen Tales hinterher. Irgendwo im Dickicht
der Bäume verliert sich mein Blick. Dorthin ist einstmals das Wasser abgeflossen. Wir entschließen uns, dem Tal zurück zu
folgen. Tief im Wald, unterhalb der Burg Regenstein versteckt, wartet noch ein weiterer Ort darauf, von Lily und dem
Rentner entdeckt zu werden.
Wir folgen wieder dem Pfad, biegen aber nach einem reichlichen Kilometer nach unten ab, bis wir auf einen breiten
Waldweg gelangen. Es riecht nach Pilzen, aber am Wegrand sind nur Fliegenpilze mit den auffällig roten Kappen zu
entdecken. Wir sind jetzt auf der hinteren Seite und können von unten hoch zum Felsen von Regenstein mit der Fahne auf
der Spitze sehen. Der eben noch so wuchtige Fels sieht von hier unten, verdeckt durch die hohen Bäume, beinahe zierlich
klein aus. Kaum zu glauben, dass wir vor kurzem noch den Blick nach unten hatten, dorthin, wo wir jetzt auf
Entdeckungsreise zu Fuß durch die Umgebung von Regenstein wandern. Und überhaupt – Wandern! Die kleine Lily genießt
die Freiheit, hier jeden Fleck neu zu erschnüffeln und ihre „Hundezeitung“ zu lesen und ich entdecke für mich, neben
meiner Leidenschaft für Rockmusik, eine neue kleine Liebe – die zur urbanen Natur, die Menschen so lassen, wie sie wächst
oder vergeht, ohne dass wir eingreifen, um sie zu verändern.
Durch das Gewirr der Baumstämme blinkt ein heller Schein, etwas, das anders ist, als dunkler Wald. Plötzlich stehen wir vor
einer Waldlichtung, eine große Senke mitten im Wald. Hier hätte man eine Lichtung mit einer Wiese erwarten können, doch
was sich den Augen zeigt, ist weißer Sand, beinahe so, wie ihn der Ostseeurlauber kennt. Man läuft über weichen Sand, am
oberen Waldrand bricht eine hohe Kante ab und in der Wand öffnen sich Löcher und Höhlen, in die man eintreten kann. Wir
haben die Sandsteinhöhlen am Regenstein gefunden. Über den Baumwipfeln an der oberen Kante ist blauer Himmel zu
sehen und ich erliege der Vorstellung, dahinter, wie bei den Dünen am Ostseestrand, das leise Rauschen von Wellen und
Meer zu hören.
Hier im „Heers“, wie das Waldgebiet zwischen Blankenburg und Langenstein heißt, kann man diesen eher unbekannten,
aber nicht weniger eindrucksvollen Ort, finden und die Höhlen entdecken. In die Sandsteinfelsen haben unbekannte Hände
Zeichen und Namen eingraviert, aber auch einige kleine „Kunstwerke“ kann man an der Wand sehen. In einem kleinen Loch
über mir hat eine Spinne ihr Zuhause eingerichtet und oben am Rand, rennt die kleine Lily einen ihrer wilden Freuden-
Sprints. Es ist still hier und irgendwie liegt ein unbekannter Zauber über dem Areal. Die Höhlen sind nicht sehr groß und die
Wände schwarz vom Qualm der Feuerstätten, die wir finden. Wäre ich noch Kind und würde hier wohnen, wäre dies der
Ort, wo ich mich in die weite Prärie mit Lagerfeuer und Winnetou denken würde. Die Fantasie findet hier Möglichkeiten
genug, sich in wilden Gedanken auszutoben und sich noch einmal in Abenteuer der Jugend zu stürzen. Gerade als ich mich
mit Old Shatterhand treffen möchte, holt Lily mich mit lautem Gekläffe in die Realität zurück. Sie möchte etwas trinken.
Der Weg zurück durch den Wald führt wieder an Plätzen mit vielen Pilzen vorbei, deren Namen und Bedeutung ich nicht
kenne. Einzig die „Fette Henne“ an einem Baumstamm, dessen Pilzkörper wie ein Schwamm aussieht, ist mir bekannt und
ich weiß, dass er genießbar ist. Wir lassen diese eigenartige Schönheit an ihrem Platz, dort ist sie besser aufgehoben, und
folgen dem ganzen Weg wieder zurück. Es ist später Nachmittag, als wir wieder den Waldrand erreichen und sich der Blick
hinüber zum Harz öffnet, zu dessen Füßen das kleine Städtchen Blankenburg in den Abend hinein döst. Der steinalte Fels
Regenstein wacht weiter über das Umland, auf das man von da oben schauen kann und dessen Wälder ringsum so viele
Überraschungen für kleine und große Beine zum Erwandern und Entdecken bereit halten. Allmählich ist mir wie
angekommen sein. Nur das Gefühl von Heimat zögert noch ein wenig, erhält mich neugierig wie eine Melodie, die ich aus
meiner Kindheit kenne: Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald, ist das Gras auf der Wiese, ist das Korn auf dem
Feld … und die Fische im Fluss sind die Heimat. Vielleicht muss man viele Jahre gelebt haben, um Heimat zu er-leben, zu
erkennen, dass Heimat ein stiller Ort, irgendwo im eigenen Kopf, sein könnte?
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.