Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Mahndorf, Bärlauch und russische Lieder
07.03.2022
Es ist Krieg in Europa, wieder einmal und ich bekomme diese Bilder nicht aus dem Sinn, die ich in der Kiste sah. Mir
jagen Gedanken durch den Kopf, sie kreiseln und malen neue, noch viel schrecklichere Bilder. Davon will ich weg,
wenigstens für einen Wimpernschlag von Zeit. Raus aus den vier Wänden und hinaus in die erwachende Natur. Sonne
tanken und eine Weile wegdenken.
In der Schule habe ich sieben lange Jahre versucht, die russische Sprache zu lernen. Zwei großartige Lehrer gaben sich
Mühe und tatsächlich ist bei mir einiges von der fremden Schönheit dieser Sprache hängen geblieben. Das liegt
sicherlich auch daran, dass mich vor allem einige Lieder aus diesem Land, das einst eine Union war, tief innen
berührten. Mir geht ein Kinderlied nicht aus dem Kopf, in dem ein kleiner Junge die Sonne malt und in die Ecke die
Worte schreibt, es möge die Sonne immer leben, wie der Himmel, wie die Mutter und er selbst auch: „
Пусть всегда
будет солнце.
“ Doch in diesen Tagen fallen Bomben vom Himmel, Rauchschwaden verdecken die Sonne und Mütter
haben wieder Angst um ihre Söhne, ihre Kinder … Angst, aus der in Russland dieses Lied entstand und eine Frage
aufwirft:
„
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg,
im weiten Feld, im Pappenheim,
befrag die Birken an dem Rain,
dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir d'rauf die Antwort gibt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg
?“
Draußen vor der Stadt in Richtung Mahndorf liegen die Felder noch brach und noch scheint die Natur zu schlafen. Hinter
den Hügeln erhebt sich der Harz blaugrau in den Himmel, zeichnet seine Silhouette als Horizont. Wir stellen das Auto an
einer Brücke über die Holtemme ab. Das kleine Flüsschen kommt aus den Bergen und schlängelt sich hier durch die
Wiesen an Mahndorf vorüber in Richtung Stadt. Wir laufen am Ufer entlang und genießen die Ruhe. Am Rand des
Weges blühen Schneeglöckchen. Es ist, als würde alles in Ruhe verharren, doch an den Zweigen der Weiden regt sich
vorsichtig zartes Grün. Die Strahlen der Sonne berühren die Wellen im Flüsschen, spiegeln sich und blenden die Augen.
Eine Melodie entsteht im Rauschen des Wassers und ich erinnere mich an ein weiteres russisches Lied.
Ich lernte die kleine Weise von der grandiosen Schönheit des Baikalsees „
Славное море, священный Байкал
“ in
den Jahren der EOS bei Herrn Paulick. Ein Russischlehrer vom Feinsten: „Herrlicher Baikal, du heiliges Meer, auf einer
Lachstonne will ich dich zwingen.“, sangen wir auf Russisch. Will ich heute dieses Lied hören, lege ich mir von Czeslaw
Niemen die „Russischen Lieder“ auf und summe leise mit. Am Ufer des Baikal würde ich auch gerne einmal stehen, die
gigantisch endlose Weite der Sibirischen Wälder im Rücken. Ich würde vielleicht abends mit Freunden am Feuer sitzen,
Fisch grillen und mit Wodka, also „
сто грамм
“, auf unsere Freundschaft anstoßen. Weit und breit kein Putin, kein
Trump oder ein anderer lebensfeindlicher Idiot mit zu viel Macht. “Meinst du, die Russen wollen Krieg?” Nein, ich bin fest
davon überzeugt, DIE RUSSEN wollen den Krieg in der Ukraine nicht! Doch was wissen sie davon wirklich und was weiß
ich selbst? Die Medien senden Bilder in die Welt, aber senden sie auch die Wahrheit? Manchmal habe ich Zweifel, auch
hier … denn Bilder können mächtige Waffen sein!
Wir haben eine Stelle am Flüsschen erreicht, wo zwischen Bäumen und umgestürzten Baumresten der Bärlauch wächst
und gedeiht. Man kann ihn sogar riechen. Blatt für Blatt der mit Zwiebel, Schnittlauch und Knoblauch verwandten
Pflanzen wandern in den Beutel der fleißigen Pflückerin, während ich mich still und unbemerkt auf das Gewürz und die
Salatbeilage freue. Irgendwo hämmert ein Specht gegen den Stamm seiner Wahl und Odin, der Rabe, sitzt weit oben im
Geäst eines Baumes. Käme jetzt Hexe Babajaga hinter einem der dicken Baumstämme hervor, es würde mich nicht
wundern. Mit den Hexen verstehe ich mich gut, seitdem auch ich eine Zeit lang mit einer „Krücke“ durch die Gegend
stolperte und ihnen dadurch ähnlich war. Hexen trifft man oft im Harz, ich habe sie auch schon gesehen.
Am Ende des Uferweges stehe ich vor einer großen Wiese. Der Himmel ist blau und die Sonne scheint durch die
wenigen Wolken. Endlich Frühling, denke ich und lenke meine Schritte vom Wiesenrand zum Ufer der Holtemme
hinüber. Auf einem alten Baumstammrest gönne ich mir eine Pause. Schön ist es hier, etwas abgeschieden und ruhig.
Auf der anderen Seite des Flüsschens führt eine Frau ihren Hund aus und für Momente sind meine Gedanken bei der
Lily. Die Kleine hätte sich hier sicher wohl gefühlt, denke ich, und erhebe mich wieder. Meine Schritte führen mich am
Ufer der Holtemme entlang. Beim Betrachten der Umgebung fällt mir der Osterspaziergang von Goethe ein: „Vom Eise
befreit sind Strom und Bäche.“ Noch immer wandle ich in meinen Gedanken versunken am Wiesenrand entlang. Auf der
stehen gewaltige Baumriesen. Noch ragen deren Äste nackt und dunkel in den blauen Himmel, doch schon bald wird
sich das ändern. Die Natur wird ihr buntes Kleid anlegen und die Düfte vieler Blumen werden locken. Darunter
Blümchen mit kleinen Glöckchen und wieder habe ich eine kleine Melodie in den Ohren: „
Однозвучно гремит
колокольчик
“. Es ist jene vom kleinen Glöckchen, das traurig klingt, wenn es an die Heimat denkt, die zu verlassen
es gezwungen wurde. Diese zarte Ballade ist eines der emotionalsten Volkslieder aus den Weiten Russlands und eines
der bekanntesten. Ob das „Glöckchen“ den Kriegslärm überstimmen wird? Ob alle geflüchteten Menschen bald wieder in
ihre Heimat zurück können?
Eigentlich wollte ich solche Gedanken zurück lassen, wollte mich wegdenken, den Schalter umlegen. Zwischen
Flüsschen, Wiesen und erwachender Natur wollte ich mich auftanken. Das frische Grün hier tut meinen Augen gut,
frische Luft füllt jetzt die Lungen und meine neue Hüfte funktioniert bestens. Eigentlich ist alles gut, denn der Frühling
naht mit Riesenschritten und wird die Kälte verdrängen. Die Natur wird sich mit tausend Farben schmücken und mit
ebenso vielen Düften locken. Aber mittendrin, nur wenige hundert Kilometer von hier, wird dieser Planet tiefe Wunden
haben, zerrissen sein und am Horizont werden die kahlen Mauerreste einer zerstörten Stadt empor ragen, wenn alles
„gut“ ausgeht, wenn wir „Glück“ haben - vielleicht.
Es gibt keinen Ort Nirgendwo auf dieser Welt. Wir haben nur diesen einzigen wundervollen Planeten, auf dem wir leben
können. Einen zweiten haben wir nicht, keine Reserve! Ich hoffe darauf, das Lied möge Recht behalten und „DIE
RUSSEN“ wollen diesen Krieg genau so wenig, wie die Ukrainer, die Polen, wir Deutschen und alle Menschen. Was wir
wollen und brauchen ist Frieden und deshalb:
„
Kleine weiße Friedenstaube
Fliege übers Land.
Allen Menschen
Groß und kleinen,
bist du wohl bekannt.
“
(Danke, Erika Schirmer.)