Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Aussicht vom Agnesberg Wernigerode
14.06.2021
Heute ist Montag. Ein Wochentag voller trauriger Erinnerungen. Heute, vor genau einem halben Jahr, mussten wir
loslassen, unsere geliebte Lily erlösen. Damals war auch Montag, aber einer, den ich nie wieder vergessen werde. In
den sechs Monate danach war ich oft den Tränen nahe, war mit meinen Gedanken bei Lily, denn jeder Winkel, jede
Geste und jede Handlung ist noch heute irgendwie mit der kleinen Hundelady verknüpft. Manchmal reißen wir aus, um
diesen Erinnerungen zu entfliehen. Raus in die Natur, die Wälder, die Felder, raus in den Harz. Auch dort laufen uns die
Erinnerungen hinterher oder kommen uns entgegen. Das wird auch heute wieder so sein, wenn wir in Wernigerode den
Weg zum Agnesberg erwandern werden – diesmal ohne unsere Lily.
Bei strahlendem Sonnenschein erreichen wir den Parkplatz zum Fürstlichen Marstall am Lustgarten. Hier beginnt die
kleine Straße, die auch von der Schlossbahn befahren wird. Als wir starten, begegnet uns der gelbe CityTrain, dem wir
ein Stück aufwärts folgen. Doch schon nach wenigen hundert Metern verlassen wir das schmale Asphaltband und
biegen nach links auf den Annenweg ab. Der führt in den dicht gewachsenen Laubwald, ganz allmählich um den Berg
herum. Durch das dichte Blätterdach fällt gleißend das Sonnenlicht und zeichnet kleine grelle Flecken überall auf den
Waldboden und den Weg. Trotz der Mittagsglut ist es angenehm frisch im Wald. Schon bald gelangen wir an eine
Biegung. Hier steht auf einer großen Lichtung, wie einem Waldmärchen entlehnt, eine Silbertanne, hoch gewachsen und
majestätisch anzuschauen. Nur die kleine Bank zum Verweilen mit den Abfalltüten passt nicht zu dem Bild der
Harmonie, der Entspannung und von Erholung. Mensch, was für dämliche Trottel hat die Evolution nur bei Deiner
Spezies hervorgebracht? Es macht mich fassungslos und wütend!
Hier endet der leichtfüßige Teil der kleinen Wanderung. Dieser Weg teilt sich und ein ausgewaschener Bergpfad führt
nun ziemlich steil aufwärts. Schon nach wenigen Minuten schnauft die Lunge, die Beine werden schwer und die Schritte
kürzer. Zum Glück bleibt es schattig und deshalb frisch. Dennoch rinnt der Schweiß bald aus allen Poren und über den
Rücken. Die erzwungene Zurückhaltung während der Pandemie macht sich deutlich in den Muskeln bemerkbar. Zu
meinem Erstaunen scheint der Aufstieg meiner kaputten Hüfte (noch) nichts auszumachen. Ein Schild informiert, dass
es bis zur Stempelstelle noch sieben Minuten wären. Vorsichtshalber verdopple ich die gelesene Zahl und halbiere noch
einmal mein Tempo. Schließlich praktizieren wir kein Speed-Wandern und müssen keinem etwas beweisen. Nach einer
reichlichen Viertelstunde und zwei Verschnaufpausen stehen wir auf dem kleinen Plateau vom Agnesberg, knapp 400
Meter über dem Meeresspiegel. Geschafft!
Als erstes erfreut der Anblick einer Bank mein Auge. Als ich dort eintreffe, öffnet der Wald ein riesiges Fenster zwischen
den Bäumen und Sträuchern. Er gibt den Blick auf das Häusermeer von Wernigerode und das darüber thronende
Schloss auf 340m, zum Greifen nahe, frei. Ich stehe ca. 60 Meter darüber und kann mich am Blick auf die Burganlage
nicht satt sehen. Immer wieder schaut das Auge über die Stadt hinaus, in die Berge bis zum Brocken, der heute sehr
gut zu sehen ist. Zu sehen sind auch viele vertrocknete Waldgebiete an seinen Hängen, dem Borkenkäfer zum Fraß
überlassen – Nationalpark eben! Wer die Geschichte der Gründung vom Nationalpark kennt, wird sich bei diesem
Anblick ärgern.
Dies ist ein majestätisches Panorama, von dem ich mich nicht losreißen möchte. Der Stempelkasten gleich nebenan
spielt nur eine untergeordnete Rolle, zumal wir die Stempelhefte zu Hause vergaßen. Ein Stück Papier muss nun als
Notbehelf genügen. Den Stempel werden wir später ausschneiden und einkleben. Vielleicht aber kommen wir im
goldenen Herbst noch einmal hierher, um das bunte Spiel der Farben der Natur zu bewundern. Oder im Winter, wenn
Schnee die Stadt und das Schloss kleidet. Heute sitze ich auf dieser Bank, gestiftet von einem Hamburger Wanderkaiser,
und staune, wie schön es doch im Harz ist und ganz ehrlich, Wernigerode ist zudem eine ganz besonders schöne Perle.
Der Ausspruch stammt von einer Dame aus Hamburg, die wir treffen und viel von Wernigerode schwärmt. Recht hat sie!
Wir sind wieder allein auf dem Agnesberg und genießen, auf der Bank sitzend, diese schöne Aussicht. Ein Rock-Rentner
mit Wanderstab, dem Schloss im Hintergrund und dem Brocken in der Ferne. Diesen Moment würde Faust sicherlich
auch würdigen: „Verweile doch, du bist so schön“, dass man ihn gern festhalten möchte. Nur der Teufel mag mich nicht
holen, der soll sich mit den Hexen auf dem Brocken vergnügen. Wir hingegen begeben uns wieder abwärts und biegen
alsbald nach rechts auf einen Pfad ab, um dem „Altar der Wahrheit“ (oder Treue) noch einen Besuch abzustatten. „Dem
vortrefflichen Manne von seiner Gattin gewidmet“, ließ vermutlich die Fürstin Christiane Anna Agnes zu Stolberg –
Wernigerode (1716-78) in den Stein schlagen. Sie wird gewusst haben warum. Heute wird so etwas sicher keiner Frau
mehr einfallen. Die meisten geben ihr Vermögen eher beim Shoppen aus und wir Männer bevorzugen stattdessen ein
Eigenheim. Mich mal ausgenommen, bei mir sind es Schallplatten.
Wieder auf dem Asphaltband vom Schloss angekommen, empfängt uns auch der gelbe City-Train und etwas später, am
Fürstlichen Marstall, die rote elektrische Stadtbahn von Wernigerode. Das Riesenrad unten in der Stadt blickt durch die
Baumlücken zu uns herauf. Es scheint nun langsam wieder etwas wie touristischer Alltag einzukehren. Das haben wir
auch beim Wandern auf dem Agnesberg gemerkt, denn in normalen Zeiten wären mehr Touristen und Wanderer
unterwegs und wir nicht allein auf dem Berg gewesen. Andererseits genieße ich es, möglichst wenigen zu begegnen
und allein in der Natur zu sein. Heute zumindest war das noch so und als wir zum Mittagsmahl in der „Rothe Mühle“,
zwischen Silstedt und Wernigerode an der Holtemme gelegen, anhalten, sind auch nur wenige Tische besetzt. In der
Mittagshitze finden wir schnell einen leeren Tisch unter einem Sonnenschirm. Inmitten einer blühenden und liebevoll
gestalteten Blumenoase lasse ich mir eine rustikale Bockwurst mit Senf sowie Kartoffelsalat schmecken. Der Rückweg
führt auf einem staubigen Feldweg durch die nunmehr grünen Rapsfelder, die von rotem Mohn gesäumt sind. Ein
schönes Naturbild, das meine Gedanken an Lily ein wenig überdeckt und mich lächeln lässt. Was hatten wir für eine
grandiose gemeinsame Zeit! Dafür sind wir dankbar und vergessen werden wir Lily ohnehin niemals. Gleich gar nicht an
einem Tag wie diesen …