Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
“Schweben” auf dem Baumwipfelpfad Bad Harzburg
30.09.2021
Wie ein Vogel fliegen können, „Fly Like An Eagle“ (19777), das sangen schon Abba und interpretierten einen alten
Traum vieler Menschen. Zwar wollte ich nie Pilot werden, aber sich in die Lüfte schwingen zu können, hätte mir auch
gefallen oder wenigstens wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast springen. So etwas geht selbst einem Rockrentner nicht
aus dem Kopf und plötzlich hilft der Zufall nach. Als ich vor ein paar Jahren das erste Mal, zum Wandern hinauf zur
Ruine Harzburg, weilte, da entdeckte ich den Hinweis auf einen Baumwipfelpfad. Seitdem will ich dorthin und auf
Augenhöhe mit den Baumkronen von Baum zu Baum laufen, wenn ich schon nicht wie ein Eichhörnchen springen kann.
Da würde auch meine Hüfte streiken, aber gemütlich laufen, das macht einem Rockrentner nichts aus.
Heute ist tatsächlich ein golden glänzender Herbsttag, als wir in Bad Harzburg die Fußgängerbrücke über die Straße
hoch nach Torfhaus betreten. Vor uns der Weg, der zum Eingang und dort direkt zur Plattform führt. Als sich das Grün
weitet, sehe ich eine riesige Stahlkonstruktion stehen. Dieses Ding erinnert mich an den Sciene Fiction „Contact“, wo
eine ähnliche Metallkonstruktion das Portal in eine andere Zeitrechnung darstellte. Es fühlt sich für mich komisch an,
sich Schritt für Schritt in der Kugel nach oben zu bewegen. Eine Runde nach der anderen, insgesamt fünf magische
Kreise, bis hinauf zur Pforte des Pfades. Hier befinde ich mich mitten in den Kronen der umstehenden Baumriesen. Doch
es führt noch eine Treppe bis zur oberen Aussichtsplattform, auf der man sich quasi in den Lüften wähnt. Nebenan, am
Hang vom Großen Burgberg, gleiten Gondeln der Baumschwebebahn zur Bergstation in fast 450 Meter Höhe. Lautlos,
wie ein springendes Eichhörnchen, schweben sie hinauf und ich schaue fasziniert hinüber. Ich stehe auf hölzernen
Brettern, genau 334 Meter über dem Meeresspiegel, und habe einen Rundblick, als würde ich in einer Baumkrone auf
dem letzten tragenden Ast stehen. Dem kleinen Jungen in mir hüpft das Herz und dem Rockrentner schlackern die
morschen Knochen, als er sich vorsichtig auf die gläserne Kanzel begibt, die ein Stück weiter hinaus ragt. Schön ist es
dennoch, hier vorn zu stehen und mein Kopfkino malt ein Bild, als könne ich, einem Adler gleich, jetzt starten.
Eigentlich könnte es das schon gewesen sein. Das „Waldbaumschiff“ ist Attraktion genug und bietet jede Menge
spannende Momente, bis man schließlich ganz oben, unter dem Himmelsdach, ankommt. Für eine Weile gehört die
Kanzel des „Waldbaumschiffes“ mir ganz allein. An diesem wunderschönen Herbstnachmittag mitten in der Woche sind
hier oben erstaunlich wenig Besucher unterwegs. Mir soll es recht sein, denn so kann ich den Pfad zwischen den
Baumwipfeln in Ruhe genießen, mich treiben lassen. Die wenigen Stufen hinab bis zum Beginn steige ich trotzdem
vorsichtig, denn tief unter mir lauert der Waldboden und vor mir, quasi als Einlass zum Pfad, ein Rahmen mit der „Natur
im Blick“. Wer mag, kann hier sein Erinnerungsfoto knipsen. Ich hab’ jetzt auch eins. Dieses „Waldbaumschiff“ lasse ich
jetzt hinter mir und schleiche mich, wie ein altes Eichhörnchen, von Baum zu Baum, ohne je den Erdboden zu berühren.
Links und rechts die Kronen hoher Bäume, vor mir ein stählerner Pfad ins Ungewisse und unter mir der Boden, wo der
Kaltetalbach sich zwischen die dicken Stämme schlängelt, die hinauf zu mir ragen. Ich „schwinge“ mich von Krone zu
Krone, von gigantischen Nadelbäumen zu knorrig belaubten Ästen. Manchmal verharre ich auch, um tief nach unten zu
schauen. Ich fühle mich wie einer meiner Waldbewohner, wie Specht Klopfkopf oder Wuschel, das Eichhörnchen.
Minuten später stehe ich vor „Nappi’s und Naira’s Abenteuerbrück“, die vom Hauptpfad abzweigt. Was nun? Wähle ich
den soliden Pfad außen herum oder wage ich mich auf den Parkour mit geflochtenen Seilen, Holzstäben und
Zwischenräumen, durch die man zwar nicht durchrutschen, aber tief abwärts blicken kann. Nach einigem Zögern und
Rückfragen bei meiner linken Hüfte, riskiere ich den langsam tastenden Gang auf den Hindernissen bis zur anderen
Seite. Dort werde ich von der Anwesenden als „Held“ gefeiert und darf meinen Weg in der Höhe zum nächsten
Abenteuer fortsetzen.
Weiter geht es an bunt gefärbten Laubbaumkronen und stämmigen Nadelhölzern vorbei, die den Pfad immer noch
haushoch überragen und zum Anfassen nah sind. Immer wenn ich glaube, bald das Ende erreicht zu haben, tut sich ein
neuer Abschnitt auf, der irgendwo zwischen den nächsten Baumwipfeln verschwindet. Weit vorn entdecke ich plötzlich
ein Seitenpfad, an dessen Ende ein kleines Häuschen mit Kaffeeduft und einem Wimpel lockt, auf dem ich „Langnese“
lesen kann. Stimmt, es ist Kaffeezeit und gute Gelegenheit für eine Pause am Berghang in luftiger Höhe mit Blick auf
den Baumwipfelpfad und die wandelnden Besucher. Beim Schlürfen des heißen Getränks wird mir allmählich bewusst,
wie sich dem Rockrentner der Traum eines kleinen Jungen erfüllt. Statt am Häuschen, sehe ich mich mit kurzen Hosen
hoch oben in einem Baum sitzen und in die weite Welt spähen.
Nach der kleinen Pause folgen wir wieder dem Pfad im Baumwipfeldickicht. Es ist eine Abenteuerreise in eine Welt, die
man bisher nur von unten sah, aber nicht wirklich kannte. Nur selten kommt jemand aus der anderen Richtung
entgegen. Immer dann, wenn der Pfad seine Richtung wechselt, steht man auf einer Plattform. Hier sind Info-Tafeln,
interessante Spiele oder Plastiken zu finden, die das Leben im Baumkronenwald thematisieren. An einer Hexe aus Holz
mache ich Halt und lasse mir vom harten Leben der Menschen früherer Zeiten erzählen, vom Holz und Beeren sammeln
im Wald. Eigentlich, so denke ich, könnte man hier Stunden verbringen und es würde niemals langweilig werden. In
solchen Augenblicken weiß ich, dass ich zu einer anderen Jahreszeit oder einer der Events, noch einmal hier sein
möchte.
Urplötzlich taucht der Abschluss des Pfades am Hang des Berges aus dem Grün auf. Hier schlängelt sich eine Seilrutsche
in Serpentinen abwärts. Wer mutig genug ist, kann sich vom Burgberg, in einem Sitz hängend, abwärts gleiten lassen
und dann von hier aus den Baumwipfelpfad erkunden. Ich habe keine Lust, den Pfad zu verlassen und unter ihm, am
Kaltetalbach entlang, zurück zu folgen, während sich über mir der Pfad durch die Baumriesen schlängelt. Wir wählen
den gleichen Weg zurück, um die Nähe zur Natur noch einmal erleben und einatmen zu können. Nur, um diesmal noch
bewusster in die herbstliche Farbenpracht und die Nähe der gewaltigen Baumkronen eintauchen zu können. Ich fühle
mich wie in einem Traum wandelnd, mit dem Unterschied, dass er eben wahr und real ist. Wieder am Kaffeehäuschen
und an der Abenteuerbrücke vorbei, über die sich schlängelnden Stahlwipfelpfade, die Seilbahngondeln im Blick, dem
„Waldbaumschiff“ entgegen.
Noch einmal der Blick über die Berge von Bad Harzburg, hinter denen allmählich die Sonne abtaucht. Gemächlich
schreite ich in der Kugel die riesigen Spiralen abwärts, dem Boden entgegen. Es fühlt sich wie der Abschluss einer Reise
an, die mich in eine fremde fantastische Welt entführt hatte und aus der ich mit wunderschönen Erlebnissen und
bleibenden Eindrücken zurückkehre. Plötzlich sieht man dieses Leben wieder etwas anders, spürt dessen einmalige
Schönheit und unwiderrufliche Vergänglichkeit am eigenen Erleben. Der Blick von der gläsernen Plattform, das
Schweben der Gondeln am Berghang, wo der Wald noch (!) intakt scheint und die zauberhafte Pracht der herbstlich
gefärbten Bäume, sie haben mich wieder einmal tief berührt. Glücklich aber demütig verlasse ich diesen Ort und tauche
beim Gang über die Fußgängerbrücke wieder in die bescheuerte Hektik der Moderne ein, die oft nur dem kurzen Erfolg
hinterher jagt, ohne nachhaltig für spätere Generationen zu denken und zu handeln. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf
lassen wir Bad Harzburg hinter uns und folgen der Piste, an den Hängen des Harz entlang, in zukünftige Zeiten. Mögen
wir es schaffen, den „Reichtum der Welt“ für unsere Enkel und deren Enkel zu erhalten, damit auch sie noch bunte
Blätter in den Baumwipfeln berühren können.