Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Rock-Rentner (be)sucht Jungfernklippe
20.04.2021
Auf dem Kalenderblatt kann ich Dienstag lesen. Das ist wichtig, denn ich bin Rentner, Rock-Rentner. Da kann es schon
mal vorkommen, dass man am falschen Tag aufwacht, zumal in diesen Zeiten und noch nicht geimpft. Das macht etwas
mit einem Rock-Rentner. Ich lese also Dienstag. Draußen geht die Sonne auf und ein azurblauer Himmel empfängt sie.
Der Dienstag wird sonnig und ich habe Lust, den Harz zu besuchen. Über dem Brocken löst sich schon der Dunst auf,
während das Gefährt über die Piste Richtung Bad Harzburg düst. Hinter der großen Schleife fahren wir auf die Stadt zu
und der Brocken verschwindet wieder. Danach geht es in die Berge, steil hinauf, denn in meinen Ohren knackt es. Nur
wenige Minuten später erreichen wir das Ortsschild von Torfhaus.
Links der große Parkplatz ist normalerweise überfüllt, Touristen- und Ausflüglersammelstelle. Heute ist nichts normal,
denn der kleine Ort erscheint wie ausgefegt. Ich biege nach rechts in Richtung Altenau ab, kurz danach auf den
kleineren Park am Waldrand. Angekommen. Der Sonnenball knallt den ersten Sommerversuch auf die Haut und ich
merke, dass ich ungünstig bekleidet bin. Dann eben nur Hemd und die Jacke um die Hüfte gebunden. Praktisch vor
Schönheit, wobei letztere mein Geburtsfehler ist, denn - ich bin schön und grau!
Der Wanderweg beginnt am unteren Ende des Parkplatzes. Wir hätten dort unten parken sollen, wird mir Stunden
später schmerzhaft bewusst werden. Die ersten Schritte machen Lust, ich fühle mich gut. Endlich wieder im
Nationalpark Harz unterwegs, aber diesmal auf der westlichen Seite. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb sich
schon wenige Metern weiter der Blick auf eine kahle Bergweise öffnet. Darüber spannen sich die Seile eines Lifts. Im
Winter ist hier die Ski-Hölle los, dafür herrscht jetzt die Stille und der Rotmilan über mir – hallo, mein gefiederter
Freund! Wenige Schritte weiter treffe ich ein bekanntes Gesicht, einen weiteren Waldbewohner. Wir plaudern und dann
folgen die Schritte einem Wegweiser am Rande: Jungfernklippe. Das Ziel meiner heutigen Sehnsucht.
Der Trampelpfad windet sich zwischen Baumstümpfen den Hang hinab in den Wald. Links und rechts halbhohe
Nadelbäume und abgebrochene, vom Borkenkäfer zerfressene, graue Stammreste. Der Wald ist krank, weiß ein jeder,
wenn man sich aber mittendrin bewegt, die alte Borke und die toten Stämme direkt vor der Nase hat, kann man das
Unheil fühlen, mitfühlen, ja sogar riechen. Dieser Eindruck wird heute ständiger Begleiter auf meinen Wegen sein. Mit
solchen Gedanken folge ich dem schmalen Pfad und bald auch dem Lauf eines Rinnsals, das rechts aus dem Hang quillt.
Es ist ein Stolpern über Stock und Steine sowie über Pfützen und Felsbrocken. Immer abwärts bis zur nächsten Biegung,
hinter der sich die nächste Wunderwelt am steinigen Hang auftut. Rechts ein Berg, links irgendwo unten das Tal, aus
dem ein Bächlein hinauf rauscht. Kein Motorengeräusch, kein Mensch und keine Werbung, einfach Natur pur. Ich bin
zufrieden, ja glücklich und ich fühle meinen Körper – mehr als je zuvor.
Der ist dieses Hinabsteigen auf ausgewaschenen Bergpfaden nicht mehr gewöhnt und die Hüfte zeigt sogar Anzeichen
von Protest. Sie will nicht, was ich mit ihr mache. Endlich öffnet sich dieser steinige Hangweg und wir stehen auf einer
Lichtung, wo sich die Wege gabeln. Kein Wegweiser, keine Chance, den alten Knochen auf einer Bank etwas Ruhe zu
gönnen, nichts. Ich entscheide, auf den Weg nach unten zu verzichten und jenen in den dichten Wald zu nehmen. Nach
hundert Metern klettern wir über entwurzelte Bäume und stecken schließlich fest. Falsche Entscheidung, Kommando
zurück. Der breite Weg hinab ins Tal muss der richtige sein. Allmählich dämmert mir, dass wir, meine Beine und ich, den
ganzen Weg nach unten auch wieder zurück, also den Berg hinauf, gehen müssen. Doch erst einmal müssen wir unser
Ziel, die Jungfernklippen, finden. Das ist auch nicht ohne, denn jeder neue Schritt gibt den Stoß ins Hüftgelenk weiter.
Deshalb hat der Rock-Rentner auch Rücken.
Hinter der nächsten Biegung haben wir den Blick in ein großes Tal. Links und rechts steile Hänge mit teils gerodeten
Flächen, auf denen nur noch Baumstümpfe zu erkennen sind. Hier haben Friedericke und der Borkenkäfer ganze Arbeit
geleistet. Was hier noch steht, reckt sich kahl, grau und tot in den blauen Himmel. Wer die Apokalypse in der Natur
sehen und erleben möchte, sollte hierher kommen und sich seinen ganz persönlichen Schock abholen! Wo einst Baum
an Baum einen grünen Teppich bildeten, ist es heute nur noch kahl, schrecklich kahl, und überall stapeln sich die riesige
Haufen toter Bäume, die mit großen Transportern nach und nach heraus gefahren werden. Von oben erleben wir dieses
Drama mit, sehen die dichten Staubwolken, die sie aufwirbeln und stehen letztlich unten auf der Piste, im toten Tal.
Hier rauscht munter ein Bächlein, vom Dehnenkopf (775 m) kommend, durch das Unterholz. Als wäre die Zeit seit dem
17. Jahrhundert eingefroren. Damals begann man hier nämlich, den Gebirgsbach für die Wasserverssorgung nutzbar zu
machen. Ein Stein am Wegesrand, mit der Inschrift „Blockschleife“, erinnert noch heute daran. Wir folgen die letzten
dreihundert Meter der Schotterpiste, diesmal bergan, um endlich die Jungfernklippe zu erreichen. Die steht als
Felsformation einsam auf dem Hang am Weg und sieht ziemlich gewöhnlich aus. Als vor ein paar Jahren der Wald noch
dicht bewachsen war, hätte man an dieser Stelle vorüber gehen können, ohne die Klippe zu bemerken. Jetzt steht der
Fels einsam am Hang neben der Piste auf 660 Meter, ist Wind, Wetter und Sonne ausgeliefert und gestattet jedem
Wanderer einen freien Blick hinunter ins Tal, wo kein einziger Baum mehr steht. Auf mich wirkt diese Szenerie wie ein
stilles, anklagendes Armageddon. Am Stempelkasten mit der Nummer 221 landet ein weiterer Abdruck in unseren
Wanderheften. Die Frage, warum der Felsbrocken Jungfernklippe heißt, bleibt allerdings unbeantwortet. Den Eindruck
vom Waldsterben hingegen speichern wir in unseren Erinnerungen.
Zeit für eine Pause, einen kleinen Snack. Danach scheinen die Füße bereit, allmählich den Rückweg in die Höhe
anzutreten. Vorbei unten am Stein mit der Inschrift und dem Bächlein, aus dem wir frisches Wasser schöpfen und
trinken. Von jetzt an wird uns jeder Schritt einige Zentimeter aufwärts führen und jedes Mal einen anderen kleinen
Schmerz auslösen. Schon nach wenigen Minuten schwitze ich am ganzen Körper kleine Rinnsale und ich verfluche die
Jacke, die ich mitschleppe. Immer öfter lege ich, legen wir, eine kleine Pause ein. Die Lungen durchpusten und dem
Körper Flüssigkeit zuführen. Nach dem langen Winter und dem Lockdown sind die Körper, trotz einiger Bemühungen, so
etwas gar nicht mehr gewöhnt. Als endlich der Skilift, der Berghang und dann auch der Parkplatz erreicht sind, würde
ich am liebsten innerlich jubeln. Doch das Fahrzeug steht im oberen Bereich und ich schleppe meinen Körper die letzten
einhundert Meter die Schräge hinauf. Ich erreiche das Auto mit Müh’ und Not, mit zitternden Beinen und mit dem
Gefühl, meinen inneren Schweinehund besiegt zu haben. Das tut gut.
Wir verschnaufen und fahren rauf zum großen Parkplatz von Torfhaus. Wenn wir schon mal hier oben sind, möchten wir
uns auch einen Blick auf den Brocken gönnen, dessen Plateau heute gut zu sehen ist. Einige letzte Flecken Schnee
blinzeln durch die sterbenden Bäume des Berges hinüber. Das Bild ist das gleiche, wie überall im Harz. Wir entschließen
uns, den Rückweg über Braunlage und die Höhen zu nehmen. Vor allem bis Braunlage am Wurmberg erblicken wir
große Flächen abgestorbener Wälder und abgeholzter Berghänge. Aber auch an allen anderen Abschnitten hat sich der
Wald gelichtet, sind die Schäden zu sehen. Es ist auch ein mulmiges Gefühl, das wir von dem schönen Ausflug in die
Berge mit nach Hause nehmen. Sollten wir Menschen vernünftig werden wollen, dann bitte jetzt – sofort!