Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Procol Harum live im Steintorvariete Halle
14.09.2017
Ganz am Anfang war der Schatten. Ein Schatten weißer als bleich und außerdem „Repent Walpurgis“, eine „Walpurgis in
Reue“, die, genau so wie dieser „blasse Schatten“, von einer Orgel kredenzt wurde. Die klang schwermütig,
wunderschön und wurde im „bleichen Schatten“ von einer Stimme dominiert, die einem das Blues-Gefühl mittels
klassischer Melodieführung in die Seele und das Herz zu brennen vermochte. Genau, PROCOL HARUM waren die
perfekten Verführer in komplizierten Halbtonschritten, federleicht gespielt. Im Radiozeitalter meiner Jugendjahre war „A
Whiter Shade Of Pale“ (1967) jener Song, bei dem man Küsse tauschen, aber dennoch tanzen konnte. Das überlange
Instrumentalstück „Repent Walpurgis“ hingegen, ging mir mit seinen anschwellenden Orgelkaskaden, unter Verwendung
eines Motivs von Johann Sebastian Bach, von Matthew Fisher bearbeitet, auf ewig unter meine Haut. Auch Gerhard
Zachar vom damaligen Dresden-Sextett, später in Lift umbenannt, ließ sich von diesem Stück zu seinem „Vo Thi Lin“,
nach einem Thema von Robert Schumann, inspirieren. Dies, und dass ich heute mit Freunden diesen Abend erlebe, ist
allein schon der Beweis, dass Rockmusik der frühen Jahre ganze Musiker- und Fan-Biografien prägte und diese
nachhaltig veränderte. PROCOL HARUM waren ein Teil dieser einzigartigen Bewegung, die auch meine Jugend war: „Wir
haben den lockeren Fandango ausgelassen und schlugen auf der Tanzfläche Rad, wo ich mich fast wie ein wenig
seekrank fühlte, die Menge aber nach mehr rief.“, so meine Deutung der ersten Zeilen von „A Whiter Shade Of Pale“.
Das ist jetzt genau 50 (in Worten: fünfzig) Jahre her. Ich bin nicht mehr 17, sondern 67, und darf mir endlich einen ganz
großen Wunsch erfüllen, die Band von GARY BROOKER live im Konzert zu erleben. Ich fahre nach Halle und schleppe all
meine Jugenderinnerungen mit ins Steintorvariete, wo ich sie in aller Stille diesem Mann am Piano symbolisch vor seine
Füße legen werde. Dafür habe ich extra einen Platz ganz weit vorn gebucht, dritte Reihe. Er soll ruhig sehen, was er mit
seiner Musik „angerichtet“ hat!
Beinahe überpünktlich betreten die Musiker die Bühne im bestens gefüllten Steintorvariete von Halle. In ihrer Mitte ein
unauffällig, aber stolzer Mann, in schwarzer Hose, mit schwarzer Jacke, silberweißes kurzes Haar. Die Meute ist aus dem
Häuschen. Wir begrüßen GARY BROOKER, lebende Rock-Historie in Reinkultur. Ganz gleich, was jetzt noch kommen
wird, ich bin innerlich berührt und glücklich, hier zu sein.
Kaum am Piano sitzend, gleiten Finger über die Tasten und d i e Stimme, weißer Blues in feine Seide gehüllt, rüttelt an
den Emporen des Hauses. PROCOL HARUM starten aus ihrer Blues-Tradition heraus, aber mit einem neuen Song aus
„Novum“ ihrem aktuellen Album. „I Told You“ klingt live viel wärmer und vom Blues durchtränkt, als von der Platte. Der
Sound ist kompakt, er ist glasklar, das Timbre des Grandseniors im Silberhaar rüttelt an unseren sensibel eingestellten
Nervensträngen und trifft voll ins Mark. Ich könnte heulen vor Glück, muss aber laut aufschreien, weil da vorn nahtlos
„Pandora’s Box“ (1975) folgt. Drei Töne nur und der betagte Fan weiß sofort, jetzt wird der Musiker die „Büchse der
Pandora“ öffnen. Wie geil ist das denn?!
Es geht tief in die turbulente Geschichte der Band. Vom neunten Album mit der „Büchse der Pandora“ macht GARY
BROOKER einen Sprung zum Album „Prodigal Stranger“ (1991) und dem „Man With The Mission“, einer rockigen
ironischen Nummer. Zum ersten Mal lässt nun auch GEOFF WHITEHORN sein Können auf den Gitarrensaiten solistisch
aufblitzen, was er im Laufe des Abends noch öfter tun wird. Der trägt übrigens ein grünes T-Shirt mit dem Schriftzug
„Willkommen im Opa-Club“, was sich quasi von selbst erklärt. Ansonsten glänzt diese Band mit einem homogenen
Sound, dezent unterstützt vom Licht, der jeweiligen Stimmung angepasst. Das Elixier des Konzerts jedoch sind die
Songs und deren herausragende Qualität sowie ihr Wiedererkennungseffekt. Sie geben diesem Ereignis fast schon eine
entrückte Größe, wie sie heutzutage nur noch äußerst selten zu bestaunen ist. Gleich ob das aktuelle „Sunday Morning“,
eine Geschichte zwischen dem sonntäglichen Kirchen- und Kneipenbesuch, oder das eher betagte „Whaling Stories“. Der
Zauber kommt aus den Melodien und den darum arrangierten Soundgemälden, die sich durch die Geschichte von
PROCOL HARUM wie eine Konstante ziehen. Ihre Krönung erfahren diese kleinen klingenden Kunstwerke durch die
Stimme des Sängers und Erzählers, die so herrlich expressiv und so faszinierend anders ist, die sich allein durch ihr
Timbre im Ohr eines Hörers in ein hymnisches Monument verwandeln kann. Es ist zum Heulen schön und zum auf die
Knie zu sinken berauschend. Auch und erst recht, wenn einem damit die eigene Vita vorgesungen wird.
Vor der Pause schenken uns die Musiker um GARY BROOKER „A Salty Dog“, eine Geschichte, bespickt mit nautischen
Themen und voller Seemannsgarn, unter Verwendung sich bombastisch aufbäumender Strophenfolgen, einem
göttlichen Orgasmus gleich – denke ich jedenfalls. Das Teil haut mir jedes Mal die Füße weg und in Halle tobt der ganze
Saal völlig aus dem Häuschen. Nach einer Pause bezaubert uns der Magier auf der Bühne mit „Grand Hotel“ (1973)
noch einmal auf gleiche Weise. Aber die Band beweist auch, dass mit „Last Chance Motel“ auf dem aktuellen Album
„Novum“ ein ebensolcher Track zu finden ist. Die Band zelebriert dieses Stück in beinahe festlicher Stimmung und
schickt dann lässig mit „Homburg“ (1967) noch den nächsten All-Time-Klassiker hinterher sowie mich wieder abwärts in
die Tiefen meiner eigenen Erinnerungen. Solche unverkrampft fließenden Songs bekommt heute kein Rockmusiker mehr
hin! Das Schielen nach Charterfolgen hat der Kreativität und dem Ideenreichtum den Nährboden entzogen. Ich aber
sitze auf meinem Stuhl und habe beim Klang der ollen Kamellen feuchte Augen!
In der Pause meinte einer, dass die da oben wie die Götter musizieren und scheinbar auch noch jede Menge Spaß dabei
haben. Im Saal amüsiert man sich köstlich über den trockenen britischen Humor, mit dem sich GARY BROOKER und
GEOFF WHITEHORN gegenseitig die Bälle zuwerfen oder der Mann am Klavier den Inhalt seines Getränkeglases
kommentiert. Das wirkt alles sehr spontan und manches einfach nur wie aus dem Ärmel geschüttelte Kommentare zu
einer Zeitreise, bei der wir dann ziemlich am Ende auf den „Conquistador“ (1967) treffen. Wieder so ein Zeitzeuge für
kommende Jahrhunderte und auch diesmal lassen PROCOL HARUM mit „The Only One“ einen gleichwertigen Song vom
neuen Album folgen. GARY BROOKER verzaubert uns noch einmal mit dem Glanz seiner Stimme und GEOFF
WHITEHORN mit dem eindruckvollen Spiel seiner Gitarre. Mit dem Song schweben wir gemeinsam, als wären wir alle
auf besondere Weise mit „diesem Einzigen“ da vorn verbunden. Danach verbeugen sie sich vor uns, eine fünfzigjährige
Band in Person ihres Bandleaders, und wir mit stehenden Ovationen davor bedanken uns. Wie im Trance trete ich vor
zur Bühnenkante, um diesem Mann im Silberhaar, sowie seiner Band, meinen Respekt zu erweisen. Hinter mir tobt das
Auditorium.
Diesen einen Song möchte jeder hören, nur diesen einen noch! Drei Meter vor mir sitzt ein Rockstar, einer wie Mick
Jagger, Ray Davis oder Pete Townshend, und spielt seinen Song, „A Whiter Shade Of Pale“, den alle, also wirklich alle,
sehr gut kennen. Dies ist so ein Augenblick, zu dem man stets sagt, ihn noch erleben und dann - aber nein! Ich
wünsche mir einfach nur, den Augenblick, so ein Konzert mit PROCOL HARUM, noch ein zweites Mal erleben und
genießen zu dürfen. Zu so einem Augenblick würde Faust wohl sagen, er solle doch verweilen, er sei einfach nur schön!
Besseres kann einem alten Rocker, nach fünfzig langen Jahren des Wartens, nicht passieren. Oder doch? Schließlich gab
es auch schon einmal mit „The Long Goodbye“ (1995), eine beeindruckend andere Form der Präsentation der Musik, die
mich so sehr fasziniert. Ich hoffe, da wird noch etwas nachfolgen, auch wenn wir dann alle um einige Jahre dem
„weißen bleichen Schatten“ näher gekommen sein werden.