Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
OPERATION EDELSTAHL
06.12.2021
Von ganz oben, vom Plateau des Burgberges mit der Canossasäule, schaute ich auf viele rote und graue Dächer der
Häuschen und Villen, die sich in die Enge des Tales zwängen oder an den Hängen nach oben ranken. Das kleine
Städtchen, das sich mit „Vornamen“ Bad nennen darf, ist als eines der beschaulichen Kurstädte im Harz bekannt. Da
hindurch führt eine breite Straße bis nach Torfhaus und Braunlage zu den Höhen im Harz. Im Ort zerfranst sie sich in
viele verwinkelte Nebenstraßen und eine mondäne Fußgängerzone. Dieses verschlafen friedliche Bild sehe ich von hier
oben, fast wie auf einer Modelleisenbahnplatte, nur eben ohne Schienenstränge und Bahnen. Dass ich Jahre später die
Zeit haben würde, an den Villen vorüber zu wandeln und, auf „Krücken“ gestützt, die Details zu bestaunen, das hätte
ich, auf dem Plateau stehend, niemals zu träumen gewagt, ist aber genau so gekommen.
Alles begann vor mehr als zehn Jahren. Wann, wo und wie genau, weiß ich heute nicht mehr. Doch irgendwann trieben
mich die Schmerzen im Rücken zum Onkel Doktor. Mit einer Überweisung kam ich zum nächsten und zum
übernächsten. Bald fand ich mich damit ab, manchmal Schmerzen zu haben, die ich gut aushalten konnte. Nach der
„Auswanderung“ in den Harz spürte ich den Schmerz häufiger, das Gehen fiel mir manchmal schwer und ich durchlebte
auch schlechte Tage. Eine mir gut bekannte Ärztin bat ich, einen Termin bei einem „Knochenbrecher“ zu machen. Meine
Hoffnung war, dass der mich, so wie Tamme Hanken es tat, wieder einrenken würde. Der fand jedoch heraus, dass nicht
der Rücken, sondern die Hüfte mein Problem ist. Das war ein Schock für mich und den sofortigen Termin für eine
Operation lehnte ich dankend ab. Ich habe Tage gebraucht, um damit fertig zu werden. Noch länger dauerte es, bis mit
den Schmerzen die Einsicht reifte, dass dieser Eingriff zukünftig sicherlich unumgänglich sein würde.
Die Auswahl einer Klinik und des Arztes erwiesen sich als eine schier unlösbare Aufgabe. Eine zufällige Begegnung
führte letztlich zur Lösung und zu einem Termin im Asklepios Klinikum in Bad Harzburg. In nur drei Stunden wurde ich
gründlich untersucht. Zwei Ärzte erklärten mir ihre Diagnose, hörten sich geduldig meine Bedenken an, antworteten
ebenso einfühlsam auf meine Fragen und ließen schnell die Erkenntnis reifen, dass es nun endlich Zeit für eine
Entscheidung sei. Bis zum Termin am 2. November hatte ich dann Gelegenheit, mich vorzubereiten. Die Professionalität
und der spürbare Wille der Ärzte, sich in all meine Bedenken einfühlen zu wollen, gaben den Ausschlag: hier wollte ich
mich dann doch operieren lassen. Noch ein knappes Quartal blieb mir bis zur Operation.
Ein Zimmer mit drei Betten und Wilfried, einem Mitbewohner, wird meine neue Behausung. Ich streife mir den Kittel
über, der hinten einen durchgehenden Schlitz hat. Wilfried zeigt hinten, so wie ich auch, einen nackten Arsch und einen
Streifen Rücken. Wir fügen uns beide in das Unvermeidliche und üben uns in Galgenhumor. Wenige später erscheint
eine Schwester, die mich rasiert. Nein, nicht im Gesicht, sondern rund um das voraussichtliche „Operationsgebiet“ und
gerne darüber hinaus. Ein Fetzen Haut meines Bauches inklusive – autsch! Noch ehe ich zum OP-Saal bewegt werde,
höre ich, dass Wilfried den Tag nach seiner OP, wegen einer Vorerkrankung, auf der Intensivstation verbringen muss.
Aber dann werde ich durch die Gänge zum Fahrstuhl gerollt und finde mich im Vorbereitungsraum wieder. Ich lasse die
übliche Prozedur über mich ergehen und versuche einen „auf cool“ zu machen. Als eine Maske mit Schlauch sich
meinem Gesicht nähert, denke ich: „Scheiße, das ist jetzt ernst!“, dann greift das Nirvana nach meinem Bewusstsein ….
Das Erwachen fühlt sich träge an, wie „Schaum im Mund“. Eine Stimme sagt was von Komplikationen, in meinem
Schädel rattern die Synapsen und ich finde mich auf der Intensivstation wieder. Neben mir, hinter einem Vorhang, liegt
Wilfried, der mich wahrscheinlich für irgendeinen Patienten hält. Ich fühle mich schwach, hänge an etlichen Schläuchen
und penne wieder ein. Als ich aufwache, spreche ich Wilfried an, der erstaunt ist, mit mir hier zu liegen. Gemeinsam
verbringen wir die Nacht, schlafen in Intervallen zwischen den sich aufblähenden Armbinden zum Blutdruck messen und
den Besuchen der Nachtschwester. Am nächsten Morgen werde ich über die „Komplikationen“ informiert. Am Ende sind
meine Daten zufriedenstellend und ich darf zurück in „mein“ Zimmer. Jetzt habe ich zwei neue Teile aus Edelstahl, mit
einem Gesamtgewicht von ca. 600 bis 700 Gramm, in meinem Körper. Beide sollen mir das Laufen erleichtern und die
Schmerzen ausmerzen – irgendwann. „Operation Edelstahl“ scheint gelungen zu sein, aber ich weiß (noch) nicht, ob ich
jetzt glücklicher bin. Erst einmal ziert mein linkes Bein ein Thrombosestrumpf und ein dicker Verband verhüllt das
„Operationsgebiet“. So verbringe ich zwei Tage, bis endlich, mit einem hinterhältigen Trick, meine Drainage entfernt
wird. Für einen kurzen Augenblick höre ich die Engelein singen, dann lachen wir gemeinsam. Operation erfolgreich –
Patient lebt! Genau so war es auch geplant.
Als auch Martin das Zimmer bezieht, sind wir zwei „gegen“ einen – zwei Ossis und ein Wessi mit DDR-Wurzeln in der
Familie. Wir drei verstehen uns vom ersten Augenblick an und „genießen“ jeden Tag. Erst schlafen, dann essen oder
anders herum und wir lachen gemeinsam ganz viel. Als wir feststellen, dass wir nicht nur dieses Zimmer teilen, sondern
auch gemeinsam und nacheinander die Reha in Bad Harzburg antreten werden, ist so etwas wie ein Komplott
geschmiedet. Drei Männer, zwei Mal Hüfte, ein Mal Knie. Nichts kann uns jetzt noch umhauen, nicht mal die noch steif
gekühlten Schnitten zum Abendbrot. Geschenkt, denn das Personal ist einsame Spitze, liest uns jeden Wunsch von den
Lippen ab, lacht mit uns und erfüllt auch mal Sonderwünsche und fast alle sind Ossis – noch Fragen?
Am Tag nach dem Entfernen der Drainage betritt eine überaus freundliche Therapeutin unser Zimmer. Wir bekommen
Krücken, gerne auch Gehstützen genannt, und ich darf das erste Mal Stehen auf zwei wackeligen Beinen üben. Die
nette Dame lässt mich sogar erste Schritte laufen. Da bin ich glücklich, denn ich weiß nun, dass mir einiges erspart
bleiben wird. Ich kann mich selbst waschen und das stille Örtchen, mit dem Hochsitz für die Hüfte, gehört mir auch
allein. Danach folgen wieder Schlaf, Essen, Schlaf, Essen und nachts ein Schnarchkonzert vom Feinsten. Zum Glück
habe ich jetzt Stützen, darf laufen und den langen Flur, sowie das angrenzende Foyer, benutzen. Diese „Ausflüge“
werden meine nächtliche Gewohnheit und treiben mich eines Nachts sogar vor die Hintertür. Als ich wieder zurück in die
Klinik will, bleibt die Tür, aus Sicherheitsgründen, verschlossen. Ich habe mich ausgesperrt! Zum Glück ist das Fenster
der Nachtschwester, ein Krankenpfleger von den Philippinen, erleuchtet. Der freundliche Mann in Weiß ist an seinem
Arbeitsplatz, statt auf dem Rundgang. Ich bekomme eine „Standpauke“ zu hören und darf dann wieder in mein Bett.
Meinen beiden Zimmergenossen hätte ich lieber nichts davon erzählen sollen. Von da an höre ich immer wieder mal
süffisant liebevolle Querverweise auf den nächtlichen Ausflug. Was hätte ich nur ohne diese zwei seltenen Napfsülzen
anfangen sollen? Zu dritt haben wir jedenfalls die Station gerockt. Es hat uns Spaß gemacht und die Langeweile
vertrieben.
Inzwischen kann ich, dank der netten Therapeutin, gut mit Stützen gehen und meine Socken selbst anziehen. Die
Drainage verheilt langsam, aber die Wunde nässt noch. Patient HH spürt den Wunsch, entlassen zu werden, um sich ein
paar Tage (zu Hause) auf die Reha vorbereiten zu können. Ich bin den Ärzten und dem Personal der Asklepios-Klinik
unendlich dankbar. Hier läuft jeder Schritt, wirklich jeder Handgriff, hochprofessionell sowie sehr geordnet ab. Keine
Spur von Hektik oder gar Zeitmangel während der Abläufe und Visite. Für alles hat man ein offenes Ohr, der Fokus liegt
auf dem Wohl des Patienten und jeder Moment ist von Freundlichkeit geprägt. Nur auf das gewünschte Schokoladen-Eis
musste ich vergeblich warten …
Nach einigen Tagen im häuslichen Umfeld betrete ich das Herzog-Julius-Klinikum, um drei Wochen mit unterschiedlichen
Anwendungen meine Genesung voran zu bringen. Im zweiten Stock beziehe ich ein schmuckes Einzelzimmer mit einem
Balkon über die ganze Nordseite, vielleicht dreißig Meter lang. Nun bin ich also wieder in Bad Harzburg, zu Füßen der
Berge. Doch diesmal blicke ich vom Balkon hinauf zur Canossasäule, deren schlanke Gestalt durch die nackten kahlen
Bäume im Novembergrau blinkt. Das kleine Städtchen ruht im Novemberblues und im Park, direkt unter mir, wird fleißig
Laub gefegt. Eine Melodie von Hauff & Henkler schwirrt mir durch den Kopf: „Auf die Bäume, ihr Affen, der Wald wird
gefegt.“ Doch ich erblicke nur Vögel und ein Eichhörnchen. Das Zimmer darf ich nicht verlassen, denn ich habe
Quarantäne. Nach Ablauf der Reha wird sich dieser Tag als der langweiligste der drei Wochen erweisen. Doch so weit
bin ich noch nicht, denn ich warte auf ein verabredetes Telefonat. Jörg Stempel macht bei rockradio.de eine Sendung
über Stephan Trepte sowie Reform und ich darf telefonisch auch etwas dazu beitragen. Als es klingelt, meldet sich
zunächst Klaus Schnabel und dann bin ich mit „Mr. Amiga“ im Netz online. Eine schräge aber schöne Erfahrung am
ersten Tag in einer Reha-Klinik. Auf diese Weise endet der erste Tag doch noch irgendwie versöhnlich und eine Melodie
klingt dazu: „Wenn die Blätter fallen, werd’ ich hundert Jahre alt“. Dein Gesang in Gottes Ohr!
Der Therapieplan ist dicht gestrickt, lässt aber genügend Freiraum für individuelle Ausgestaltung. Mir bleibt nur,
zwischen Frühstück, Mittag- und Abendessen, viel zu schlafen. Massage, Wassergymnastik und Drainagemassage zeigen
bald Wirkung und der Thrombosestrumpf hat ausgedient. Meine Spaziergänge im Park weiten sich aus und nachmittags
sitzen wir zu dritt, Martin, Wilfried und ich, im Cafè, um dieser Welt zu erklären, wie sie ticken sollte. Nebenbei trinken
wir Kaffee und fallen durch Lacher auf. Wieder sind wir die (heimlichen) Stars. Das geht so weit, dass uns die Inhaberin
aus der Stadt Schweinsohren und Mohrenköpfe bzw. Negerküsse (die heißen schon seit meinen Kindertagen so)
mitbringt, weil sie bei ihr nicht im Angebot sind. Wir sind glücklich und genießen es, uns verwöhnen zu lassen. Am Ende
der drei Wochen werde ich dennoch ein paar Kilo weniger auf die Waage bringen. Mein Körper kann’s gerade noch
verschmerzen.
Tägliche „Spaziergänge“ im Park sind Teil der Therapie. Ich traue mich auch allein und genieße so die letzten bunten
Herbsttage. Die Wege schlängeln sich durch die Anlage, vorbei an Skulpturen, Plastiken und einer Mini-Golf-Anlage.
Mittendurch rauscht das Wasser des Riefenbaches, der hier in die Randau mündet; mitten im Park. Im Sommer mag das
eine grüne und blühende Oase sein. Im Spätherbst ist hier alles ziemlich grau und trist. Ich genieße es trotzdem, allein
und langsam hier entlang zu laufen. Die Stille wirkt wie Balsam und die Bratwurst vom Kiosk schmeckt. Tage später
traue ich mich, durch die kleine Stadt zu flanieren, die in diesen (Corvid)Tagen eingeschlafen zu sein scheint. Bad
Harzburg wirkt auf mich manchmal wie aus der Zeit gefallen und manche schöne Villa würde sich auch an der
Promenade von Heringsdorf oder in Albeck gut machen. Im Grunde ist dieser Flecken wie geschaffen, sich von einer
schweren Operation zu erholen und dass viele der Geschäfte gerade geschlossen sind, fällt zumindest mir nicht wirklich
auf. Einen Laden für Schallplatten habe ich jedenfalls nicht gefunden.
Je weiter die Zeit voran schreitet, desto mehr scheint sich jeder Tag in die Länge zu ziehen. Ich reiße aus, um der
Seilbahn zuzuschauen, die futuristischen Kugel des Baumwipfelpfades zu bestaunen oder einfach nur, um irgendwo
neue Details zu entdecken. Doch nach endlos langen zwei Wochen bin ich damit am Ende. Das Cafè hat endgültig
geschlossen, das Schwimmbad ist „aus technischen Gründen“ zu und das TV-Programm strotzt nur so vor
Einfallslosigkeit. Ich will (wie E.T.) „nach Hause telefonieren“ und meinen gewohnten Trott im Alltag wieder finden. Ich
weiß, dass ich mir von nun an selbst helfen muss, will ich wieder vollständig gesund werden. Als ich endlich in mein
persönliches „Taxi“ steigen kann, bin ich glücklich. Schnell noch einen Abstecher nach Goslar, dem jüngsten
Geburtstagsenkelkind einen Besuch abstatten, und dann nix wie nach Hause, um das neue Edelstahlteil einzuarbeiten.
Meine Zukunft beginnt genau jetzt und ich freue mich darauf.
Mein herzlicher Dank gilt ALLEN Miarbeitern im
Asklepios Harzklinikum und der Herzog-Julius-
Klinik in Bad Harzburg. Ihr seid großartig!!