Wenn der See noch blau schimmert
05.05.2018
Der Harz ist schön, das ist eine Binsenweisheit. Der Brocken zieht Hexen und Besucher gleichermaßen an. Im Sommer
sind der Hexentanzplatz sowie Roßtrappe von Menschen überflutet und die Bahn zum Brocken überfüllt. Die
Touristenströme sind nicht aufzuhalten und am Wochenende müsste man Autos und Motorräder auf den Parkplätzen in
Torfhaus, in Drei Annen Hohne und an der Rappbodetalsperre wahrscheinlich stapeln. Eine Erkenntnis, die sich der
zugezogene Südbrandenburger mindestens zwei Mal in drei Jahren hart erkämpft hat: An einem Ferienwochenende im
Winter waren die Straßeränder Richtung Torfhaus kilometerlang zugeparkt und der Parkplatz zum „Harzdrenalin“ an der
Talsperre ist ein Musterbeispiel für Fehlplanungen. Also begreift der Neu-Harzer sehr schnell, sich die unbekannten und
abgelegenen Orte für seine Exkursionen auszuwählen: Die Aussichten der La Viershöhe über dem Bodetal oder vom
Weißen Hirsch oberhalb von Treseburg sind kaum zu überbieten und wer schon mal auf Rübeland vom Pavillon auf dem
Hohen Kleef gesehen hat, wird das Staunen verinnerlichen, muss aber auf Rostbratwurst, Bier und Trödelstände
verzichten.
Wenn man also von Rübeland kommend auf der Bundesstraße nach Hüttenrode fährt, „erklimmt“ man eine Höhe von
knapp fünfhundert Metern, aus einem schmalen Tal kommend. Vor Jahrzehnten wurde hier in einem Steinbruch
Kalkstein abgebaut. Inzwischen ist der Steinbruch Garkenholz stillgelegt und das metertiefe Loch mit Wasser voll
gelaufen. Wegen des hohen Kalkgehaltes absorbiert das Wasser alle Farben, außer einem leuchtenden Blau, das dem
kleinen versteckten See seinen Namen verpasst hat: Blauer See.
Wir durchfahren von Blankenburg aus die Serpentinen vorbei am Ziegenkopf, bis Hüttenrode erreicht ist. Dahinter fällt
die Straße wieder ab. Gleich hinter der Bahnbrücke ist der Abzweig zu einem wilden Parkplatz mit im Grünen. Es ist
einer dieser brütend feuchtheißen Frühsommertage im Mai. Die Luft ist zum Schneiden dick und über den Höhelagen
der Berge flimmert es. Der Gedanke, den kleinen Bruder der „Blauen Lagune“ zu besuchen, schwirrt schon eine Weile
durch meinen Kopf. Heute dann die sehr spontane Entscheidung und eine halbe Stunde später steht das Gefährt auf
dem staubigen Parkplatz.
Gleich hinter dem abgestellten Gefährt führt ein Trampelpfad den Hang nach oben, an Büschen vorbei und hinein
zwischen Sträucher und Bäume. Wenige Schritte weiter stehe ich auf einer kleinen Anhöhe und schaue aus der
Vogelperspektive, durch Geäst und Sträucher hindurch, auf azurblaues Wasser zu meinen Füßen. Dahinter steigen
Wiesen und Hügel sanft an und man bekommt die ganze Schönheit dieses Plateaus wie auf einem Tablett serviert. Auf
der Straße, die sich dort nach oben schlängelt, bin ich schon oft hier vorüber gefahren, ohne etwas von diesem
versteckten Kleinod zu ahnen. Auch Lily der Hundedame scheint es zu gefallen, auf dem schmalen Pfaden zwischen uns
hin und her zu flitzen.
Der kleine See hat sich tief unten, wo einst der Kalkstein gebrochen wurde, angesammelt. Ich stehe oberhalb an einer
ehemaligen Abbruchkante und sehe auf die blaue Wasserfläche, geschätzte zehn Meter unter mir. Welch fantastischer
Anblick! An heißen Tagen kommen aus der ganzen Umgebung die Menschen zum Baden hierher, obwohl es eigentlich
nicht gestattet ist. Durch das Schwimmen im eiskalten Wasser beschleunigt sich dann der Algenwuchs und weil
außerdem immer weniger Wasser aus den Quellen hinzu kommt, weicht das Blau im Sommer einem dunklen Grün. Bis
es Herbst wird, versickert das Wasser im Kalkuntergrund und im Winter ist der See schließlich ausgetrocknet, um im
nächsten Frühjahr diesen Kreislauf von vorn zu beginnen. Doch davon ist jetzt Mitte Mai noch nichts zu bemerken.
Wir steigen eine steile Treppe nach unten. Überall, sogar auf engen Felsvorsprüngen in luftiger Höhe, sitzen Besucher
und genießen den Anblick. Einige haben sogar Zelte aufgebaut und scheinen auch die Nacht hier zu verbringen. Für
meinen Geschmack ist das alles ein bizarrer aber zauberhafter Anblick. Es ist wunderschön hier und dennoch möchte
man über den Leichtsinn einiger Besucher nur den Kopf schütteln. An der einen Uferseite fallen die Felswände fast
senkrecht ab und auch unter Wasser kann ich scharfe Kanten erkennen. Irgendwie traue ich dieser verführerischen
Schönheit nicht.
Wir verweilen einige Minuten in der Nähe des flachen Wassers und setzen dann unseren Weg auf der anderen Uferseite
fort. Auch hier ist die Böschung steil und dicht bewachsen. Überall sprießt das Grün mit brachialer Kraft, Blumen und
Sträucher blühen und bilden oft einen farbigen Kontrast zum blauen Wasser im Hintergrund. Überall fliegen
Schmetterlingen und auf den Pflanzen entdecke ich manchmal kleine Käfer. Hoch über uns zieht ein Greifvogel seine
Kreise und schraubt sich in den warmen Lüften nach oben. Wie ein Traumwandler oder Tagträumer gehe ich Schritt für
Schritt, genieße die Ruhe, die mich umgibt und auch, dass die kleine Hundelady sich hier offensichtlich sehr wohl fühlt.
Nach einem schweren und kräftezehrenden langen Jahr sind das hier die Momente, in denen wir wieder auftanken und
neue Kraft schöpfen können und der kleine blaue See kommt mir ein wenig vor, wie die berühmte „Blaue Lagune“, die
unsere Fantasie beflügelt hat.
Es ist schön im Harz. Ganz besonders schön ist es dort, wo die Stille regiert und die Ruhe in der Natur das Geschehen
und dessen Geschwindigkeit bestimmt. Dort und dann fühle ich mich schon zu Hause, angekommen und aufgenommen.
Hier wurde ich zum Rock-Harz-Rentner, der langsam lernt, wie man Demut und Gelassenheit in den kleinen
Unscheinbarkeiten der Natur entdecken und darüber glücklich sein kann. Den Blauen See haben wir noch mehrmals im
Jahr besucht und stets hat er uns auf ganz besondere Weise fasziniert.
August Oktober November
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.