Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Blauer See im tiefen Schnee
11.01.2021
Mich beschleicht ein komisches Gefühl, als ich am späten Vormittag ins Auto steige. Zum zweiten Mal fahre ich heute
ohne meine Lily als Begleitung Richtung Harz. Mein Herz sagt, „Geh’ zurück und hole Lily.“, der Verstand antwortet,
„Geht nicht, sei vernünftig.“. Also steige ich ein und fahre aus dem Hof, raus auf die Straße. Keine Lily neben mir, aber
tief im Herzen wedelt sie mit dem Schwanz. Es tut mir weh. Aber genau deshalb muss ich endlich wieder raus, hinaus in
die Natur, wenn schon der Besuch von Konzerten nicht möglich ist.
Seit einigen Tagen ist es weiß in den Bergen, während hier im Tal Lock- und Rockdown regieren. Das macht etwas mit
den Menschen. Im Harz will ich dieses Etwas abschütteln. Hinter Blankenburg ragen die Berge dunkel in den grauen
Himmel und ich kann viel Schnee erkennen. In den Serpentinen nach Hüttenrode empfängt mich dann der Winterwald.
Unten fahre ich am Waldweg zur Kaiserwarte vorbei, wenig später an der Einfahrt zur Otto-Ebert-Brücke. Ich spüre Lily
neben dem Herzen, denn die Orte haben wir gemeinsam besucht. Vorbei an der Straße zum Ziegenkopf mit dem
Aussichtsturm fahre ich auf der Piste nach Hüttenrode. Im Ort, auf knapp 500 Metern Höhe, liegt so viel Schnee, dass
man am Straßenrand nicht mehr parken kann. Nur die Hofeinfahrten sind frei geräumt. Hinter dem Ortsschild bin ich
oben, freier Blick über den Harz. Es ist diesig und die Wälder liegen im dichten Grau versteckt. Nun führt die Straße
wieder steil abwärts und nach der Unterquerung der Bahnstrecke biege ich nach rechts auf den unscheinbaren Parkplatz
ab – ich habe mein Ziel erreicht. Aussteigen.
Mittagsstunde. Der Parkplatz liegt einsam, still und völlig verschneit vor mir. Ich bin überwältigt, denn lange schon habe
ich so einen Anblick vermisst. Die Bäume und Sträucher tragen schwer unter ihrer Last und verbiegen sich. Der Weg bis
zum See sieht aus wie eine von geschmückten Ästen gesäumte Promenade. Für einen Augenblick denke ich an die
Schneekönigin, die sich hier zauberhaft ausgetobt hat. Dieser Ort und die Landschaft strahlen weiße Magie aus. Ich
schreite als einziges Lebewesen hier entlang und habe Lily im Herzen. Sie liebte Schnee und würde jetzt wahrscheinlich
ausgelassen umher rennen und toben. Das sind jene Augenblicke, in denen ich sie schmerzlich vermisse. Ein
zauberhafter Ort zum Weinen und zum Erinnern!
Wie im Traum wandle ich durch die Schneelandschaft am Blauen See, die ich bisher nur vom Frühling, Sommer und
Herbst kannte. Nun komplettiert der Winter meine Eindrücke, aber er verdeckt auch die vielen besonderen Details und
macht mit einer Schneedecke alles gleich. Niemand und wirklich nichts kann sich hervortun, besonderen Glanz entfalten
oder Blicke auf sich ziehen. Alles zeigt sich in bizarrer gleicher Schönheit und manchmal glaube ich sogar, die Last zu
spüren, die auf diesem feinen Geflecht aus Ästen, Zweigen, Gewirr und Buschwerk verteilt liegt. Ich gehe vorsichtig
über eine fest getretene Schneedecke, die den Weg markiert, und stehe schließlich unten. Zu meinen Füßen der See
oder das, was noch vor Wochen ein See war. Ich kann es kaum glauben.
Vor mir ein begrenztes Panorama in hell und dunkel. Darüber ein Himmel voller Grautöne, was diese Szenerie am See
unwirklich erscheinen lässt. Außer mir ist niemand weit und breit. Zu meinen Füßen senkt sich der Boden dorthin, wo im
Sommer der Wasserspiegel beginnt. Die schroffen Felsgesteine werden mit weichen Linien vom Schnee verdeckt und
gleiten darunter bis zum Grund, der ringsherum von steilen Hängen, wie ein Stadionoval, eingefasst ist. Ich schreie ganz
laut, doch Schnee schluckt jeden Laut, jeden Ton. Es ist zur Mittagszeit gespenstisch still. Nur ab und zu
Motorengeräusche von der nahen Straße zwischen Hüttenrode und Rübeland. Diese Oase kennen zum Glück nicht viele
und ich hoffe, es bleibt auch so. Viel Magie ginge verloren, fänden Touristenmassen den Weg hierher.
Nach einigen Minuten der inneren Einkehr mache ich mich auf dem Rückweg, nicht ohne gedanklich Lily zu rufen. Ich
folge dem Hohlweg, laufe unter mit Schnee bedeckten Ästen und genieße es, auch mal am Hang nach oben zu klettern,
um in die winterliche Landschaft zu schauen. Auf dem Parkplatz ist gerade ein zweites Auto angekommen. Die
Gelegenheit nutze ich, um ein Foto von mir im Schnee zu erbitten. Die Kunst, selbst ein Selfie zu machen, beherrsche
ich nicht. Wenige Augenblicke später rolle ich wieder auf die Piste, nach rechts, Rübeland und meinem Lieblingsausguck
entgegen.
Auf einer Klippe aus Kalkstein, rund 440 Meter über dem Meeresspiegel, steht ein kleiner Pavillon am Hang, der „Hohe
Kleef“. Hier bin ich gern und oft, weil man weit über den Hochharz bis zum Brocken schauen kann, wenn das Wetter
mitspielt. Die Aussicht ist phänomenal, der Ort aber, wie der „Blaue See“ auch, eher wenig bekannt bei Touristen.
Deswegen ist man hier oben meist allein und kann die Aussicht in aller Ruhe genießen. Genau das mache ich, auch
wenn der Brocken diesmal einen dichten Schleier aus Wolken trägt. Es macht dennoch Vergnügen, auf den Ort unter
mir zu schauen, der wie eine Landschaft aus dem Spielzeugland auf der Eisenbahnplatte anmutet. Kleine Häuser,
Straßen, auf denen Autos fahren und eine Bahnstrecke, die sich durch den ganzen Ort schlängelt. Steile Berghänge zu
beiden Seiten grenzen Rübeland in einem Tal ein. Der Eingang zur berühmten Hermannshöhle, und auf der anderen
Seite der zur Baumannshöhle, ist gut zu erkennen. Man kann im Pavillon stehen und sich beim Staunen wieder wie ein
Kind fühlen. Hier oben ist es ziemlich windig und deshalb bleibe ich nicht lange. So ganz allein, ohne Lily und Frauchen,
macht der Ausflug letztlich nicht wirklich Spaß. In diesem Augenblick spüre ich wieder, wie sehr mir unsere kleine
Hundedame fehlt. Es wird noch lange dauern, darüber hinweg zu kommen, denke ich.
Der Rückweg führt mich wieder durch Rübeland, vorbei am Parkplatz zum See, durch Hüttenrode und Blankenburg, der
Stadt entgegen, die seit mehr als sechs Jahren nun mein Zuhause ist. Angekommen, denke ich, als nach der
Wilhelmshöhe die Silhouette von Halberstadt auftaucht. Ein dankbares Gefühl, hier den Lebensabend verbringen und die
Nähe zum Harz und zum Huy genießen zu dürfen. Ich fühle mich reich beschenkt und wenn jetzt noch das Virus Corvid
verschwinden würde, wäre ich sogar auch innerlich von einer großen Sorge befreit. Ich möchte noch oft die kleinen
unscheinbaren Orte im Harz aufsuchen, die kleinen Geschichten entdecken und mich an den Geheimnissen der Natur
erfreuen. In meinem Alter – ich bin im 72. Lebensjahr - lernt man die einfachen Dinge schätzen: Sonnenaufgänge,
morgens aufstehen, die Kälte der Nacht, den weißen Schnee und die Liebe, die man empfängt. All das macht mich
demütig, dankbar und glücklich, denn es bedeutet, dass ich lebe.